Anthony McCarten – Jack

 

Romanbiographie, fiktionale Biographie, biographischer Roman – Erzählungen über das Leben von Literaten und Künstlern haben derzeit Konjunktur und kommen in vielerlei Gestalt daher. Mal mehr oder weniger den gängigen Vorstellungen und Klischees über die jeweils dargestellte Person entsprechend, ein anderes Mal gezielt revisionistisch und neue Perspektiven eröffnend. Mit seinem 2018 in deutscher Übersetzung bei Diogenes erschienenen Roman Jack (Originaltitel: American Letters) fügt sich der neuseeländische Autor Anthony McCarten in diese Reihe ein: Sein Roman ist eine Hommage an das Werk Jack Kerouacs, die über eine bloße Literarisierung der Lebensgeschichte des King of the Beats hinausgeht.

von Larissa Plath

Man schreibt das Jahr 1968. Jack Kerouac, gefeiertes Idol der Beat Generation, ist nicht länger auf den Straßen der USA unterwegs, sondern zum Stillstand gekommen, versackt. Was auf den ersten Blick wie der Abschluss seiner Sinnsuche wirken könnte, ist in Wahrheit eine Flucht vor der Realität und vor dem Rummel um seine Person. Gemeinsam mit seiner dritten Frau Stella und seiner Mutter lebt der Autor in den letzten Jahren vor seinem Tod isoliert vom Rest der schriftstellerischen Welt in einem kleinen Haus in St. Petersburg, Florida. Der Alkohol hat deutliche Spuren hinterlassen, von dem ehemals attraktiven und begehrten Beatnik ist nicht mehr viel zu erkennen. Was bleibt von dieser Kultfigur der amerikanischen Jugendbewegung der 1950er Jahre?

Auf biographischer Spurensuche

Für Jan Weintraub, Ich-Erzählerin in McCartens Roman, ist die Sache klar: Kerouacs Werk muss einen festen Platz in der amerikanischen Literaturgeschichte der Nachkriegszeit erhalten. Ein entsprechender Plan ist schnell gefasst, und die Literaturstudentin aus Berkeley macht sich auf den Weg nach Florida, um Kerouacs offizielle Biographin zu werden. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gewinnt sie sein Vertrauen, führt Interviews mit ihm und wird für einige Tage sogar Gast in seinem Hause. Dabei hat sie eine weitaus engere Verbindung zu dem Schriftsteller, als der Leser, und vor allem Kerouac selbst, zunächst glauben möchten – Jans Enthüllung ihrer wahren Herkunft bestimmt den Fortgang des Geschehens und wird ihr schlussendlich zum Verhängnis. Sie erzählt Kerouac ihre Geschichte, eine „geheime Geschichte, aus formbarerem Stoff als der Phantasie gemacht: aus Fakten.“ Was zunächst wie eine konventionelle fiktionale Biographie anmuten könnte, erweist sich dann als eine Suche nach Identität und individueller Wahrheit, die über die Lebensgeschichte Jack Kerouacs hinausgeht und die Erzählerin und angehende Biographin Jan zur weiteren Hauptfigur macht.

Hit the Road Jack

Zentrale Motive aus Kerouacs Kultroman On the Road finden sich auch bei McCarten wieder: Der Drang nach Freiheit und Selbstverwirklichung bestimmt im Fall der beiden Protagonisten Sal und Dean ihre Reise vom Osten der USA in den Westen des Landes. Jan wiederum begibt sich in umgekehrter Richtung von Berkeley nach Florida auf ihre ganz eigene Spurensuche und scheint dabei weniger getrieben von individueller Selbstfindung als von ihrem wissenschaftlich-biographischen Vorhaben. Worin ihre Mission „im Dienst der Geschichtsschreibung“ in Wahrheit besteht, bleibt für den Leser jedoch lange Zeit unklar. Steht im Mittelpunkt der Reise das Voranbringen der eigenen wissenschaftlichen Karriere? Ist ihr Ziel die Aufdeckung von Kerouacs angeblicher Mitschuld am Tod seines Freundes Neal Cassady? Oder hat sich Jans Faszination für das Werk des Beatnik-Autors in eine übermäßige Fixierung auf die Person Kerouac gewandelt? Gerade diese undurchsichtige, anfangs durchaus gewöhnungsbedürftige Erzählerin macht das Besondere des Romans aus. Die wenigen, oftmals widersprüchlichen Informationen, die Jan über sich preisgibt, lassen ihre wahren Motive im Dunkeln und bilden einen spannungsvollen Kontrast zu ihrer Jagd nach biographischen Details aus Kerouacs Leben. Diese gelingt nur mithilfe von Täuschung und frei interpretierten Tatsachen: Der Leser wird bei der Lektüre zum Fährtenleser.

Ich ist ein anderer

Am Ende überschatten bei McCarten individuell gedeutete Wahrheiten biographische Fakten. Kerouacs autobiographische Romane sind geprägt von der Reibung zwischen eigener Lebenserfahrung und deren fiktionaler Verarbeitung; nicht selten beeinflusste sogar die Fiktion die reale Lebenswelt, so wie im Fall von Neal Cassady, der durch sein von Kerouac entworfenes literarisches Alter Ego Dean Moriarty aus On the Road zur tragischen Kultfigur wurde. McCartens Roman zeigt Kerouac als permanenten Rollenspieler, der die unterschiedlichsten Facetten seiner selbst aufblitzen lässt und doch bis zu einem gewissen Grad undurchschaubar, nicht fassbar bleibt. Jan beschreibt ihn als „Meister der Verstellung“, einen modernen Rimbaud. Nach Jans Enthüllung spielt er die ihm auferlegte Rolle mit, ob aus Vertrauen zu der jungen Frau oder wegen der Unausweichlichkeit des Spiels, ist unklar. Kerouac verweist in diesem Zusammenhang auf den französischen Schriftsteller Jean Genet: „Nichts könnte mir unähnlicher sein als ich selbst“. Was der ambitionierten Literaturstudentin letztendlich bleibt, sind die Tonbandaufnahmen von den Gesprächen und die Gewissheit, dass man sich der zahlreichen Versionen von Kerouacs Ich nie ganz sicher sein kann.

Mit dieser Einsicht lässt einen Anthony McCartens Roman zurück. Für den geneigten Beatnik-Anhänger bietet Jack keine überraschenden Hintergründe. Dass McCarten sich nicht auf Kerouacs glorreiche Zeiten konzentriert, sondern entgegen aller sonstigen Idealisierung den Niedergang des Kultautors darstellt, macht eine der Stärken des Romans aus. Jack ist ein vielschichtig inszeniertes Wechselspiel der Identitäten, das die Neugier auf das bewegte Leben on the road weckt und dazu einlädt, den Spuren Kerouacs und seiner fellow Beatniks auch über die Lektüre des Buches hinaus zu folgen.