Axel Kruse, 2014 Gewinner des Deutschen Science Fiction Preises und Fans des Genres schon länger ein Begriff, hat freundlicherweise den Weg vom Ruhrgebiet ins Tal angetreten, um mit uns über Science Fiction, das Autordasein, Zeitreisen und das Verhältnis von Literatur und Politik zu sprechen.
Das Interview führte Caroline Köhler
Caroline Köhler: Zunächst Vielen Dank, dass Sie sich für das Interview bereiterklärt haben.
Axel Kruse: Danke, ich fühle mich geehrt!
CK: Viele fragen sich wahrscheinlich, wie man überhaupt auf die Idee kommt, selber zu schreiben. Wie war das bei Ihnen? Spontaneingebung? Längere Überlegung? Impulse von außen?
AK: Wie kommt man auf die Idee zu schreiben? Ganz einfach, man hat keine Literatur mehr zur Hand und möchte etwas lesen. Angesichts des leeren Geldbeutels kann man sich kein Buch kaufen, was bleibt anderes übrig, als selber etwas zu schreiben, was man noch nicht kennt?
So ist das bei mir geschehen, … ich war vierzehn Jahre alt und mein Taschengeld reichte nicht aus. Leider ist das, was ich damals verfasst habe, nicht mehr überliefert. Ich würde es gerne heute noch einmal lesen.
Aber damals packte mich tatsächlich die Leidenschaft. Und, ganz ehrlich, was ist Schreiben anderes als ein etwas anderes Rollenspiel? Ein Rollenspiel, das wohl jeder von uns als Kind gespielt hat. Mit irgendwelchen Figuren als Hilfsmittel. Das ist letztendlich nichts anderes, als eine Geschichte zu konzipieren. Und das habe ich als Kind stetig, täglich gemacht. Wie gesagt, zuerst als Rollenspiel und später dann auf Papier.
CK: Sie haben sich buchstäblich einem Genre verschrieben, nämlich der Science Fiction. Woher kommt die Begeisterung, gerade in diesem Genre tätig zu werden?
AK: Da muss ich ausholen. Schuld ist mein Vater. Er hat mir seit frühester Kindheit abends immer vorgelesen. Jeden Abend, extrem viel. Wir sind mit Winnetou und Old Shatterhand über die Prärie geritten, haben uns mit Kara ben Nemsi im Orient getummelt und haben dann auch noch so manches andere Abenteuer nicht ausgelassen. Und dann …, dann war der „klassische“ Lesestoff gelesen, zumindest der, den mein Vater vorrätig hatte. Alles gelesen, wirklich alles? Nein, da gab es noch ein Buch, das mein Vater aus seiner Jugend aufgehoben hatte. Es war in alter deutscher Schrift geschrieben, aus diesem Grunde hatte mein Vater das bis dato ausgespart, musste ich doch immer auch eine Seite ihm vorlesen und das gestaltete sich bei dieser Schrift schwer. Egal, nun war es an der Reihe. Es handelte sich um ein Werk Freder van Holks (Pseudonym des Autors Paul Alfred Müller). Band 2 der Reihe „Sun Koh“, betitelt mit: „Kampf um die Sonnenstadt“
Der Erbe der Maya, ein Hüne mit blondem Haar (sic!, aber da kommen wir später zu), kämpft um sein Erbe als Königssohn im angehenden 20. Jahrhundert. An seiner Seite stehen ein englischer Gassenjunge und ein schwarzafrikanischer Boxer. – Ich war angefixt. Es war ein Abenteuerroman mit eindeutigen Science Fiction-Einschlägen. Und wie der Zufall es so wollte, kurze Zeit später wurde die Reihe neu aufgelegt, mein Vater kaufte sie mir alle. Eine Jugendbuchserie, die vor dem Zweiten Weltkrieg entstand und während der dreißiger Jahre weiter verfasst wurde. Die Nationalsozialisten nahmen Einfluss auf das Geschehen, der Held musste blond sein, es mussten deutsche Wissenschaftler her, die ihn unterstützten und …, der Sidekick, der Schwarzafrikaner, der musste sterben, musste aus der Serie rausgeschrieben werden. Der Autor hatte sich mit dem Regime arrangiert, nachdem er Besuch von der Gestapo hatte. – Das alles wusste ich damals nicht, für mich war es einfach das Abenteuer pur, das zog.
Da ich Karl May bereits hinter mir gelassen hatte, führte eben diese Serie zur neuen Orientierung, fortan las ich (fast) ausschließlich Science Fiction.
CK: Welche Autoren und welche Bücher haben Sie inspiriert?
AK: Nun, angefangen bei Karl May über B. Traven dann zu Science Fiction Schriftstellern wie Isaac Asimov, Robert Heinlein, Arthur Clarke, Clifford Simak, Poul Anderson, Robert Sheckley …, ich könnte hier wahnsinnig viele aufzählen, aber das waren die ersten, die ich verschlungen habe. Und damit meine ich, dass ich ALLES, was sie auf deutsch veröffentlicht hatten, gelesen habe, ich besitze derzeit eine Bibliothek mit über 2.000 (zweitausend) Büchern.

CK: Sie sind im Erstberuf als selbstständiger Steuerberater tätig, wann finden Sie die Zeit zum Schreiben und wie darf ich mir Ihren Schreiballtag vorstellen?
AK: Die Frage wird häufig gestellt und die Antwort ist simpel: Zeit ist nicht der Faktor.
Ein Beispiel: Jeder Mensch hat ein Hobby, dem er (oder sie oder es, für Gender ist gerade kein Platz) frönt. Manch einer macht Sport, andere sehen fern oder sitzen vor dem viereckigen Freund und machen Computerspiele. – Das mache ich alles nicht. Überlegen Sie einmal, wie viel Zeit sich da gewinnen lässt.
Außerdem, wenn ich weiß, was ich schreiben will, dann benötige ich für eine Seite rund eine Viertelstunde. Wenn ich mir also pro Tag eine Viertelstunde Zeit nehme, habe ich am Ende eines Jahres 365 Seiten zusammen. So viele Seiten umfassen meine letzten Bücher nicht.
Es ist nicht die Zeit, die man benötigt (natürlich die auch, aber eben nicht nur), sondern die Idee. Man muss wissen, was man schreiben will, muss es konzipiert haben, dann ist das Niederschreiben nur noch ein Abschreiben dessen, was man vor dem geistigen Auge hat.
Der Schreiballtag ist …, den gibt es nicht. Es gibt Zeiten, lange Phasen, binnen derer ich nicht schreibe. Aber in diesen Phasen geistert stetig und ständig im Hinterkopf eine Idee herum. Immer wieder wälze ich diese, durchaus beim Autofahren, im Büro oder sonst wo. Immer wieder überlege ich, wo ich hinwill, was ich sagen will. Und irgendwann ist das Buch fertig. Wohlgemerkt, in meinem Kopf, ich mache mir keine oder, wenn überhaupt, nur wenige Notizen. Dann nutze ich in der Regel einen Urlaub, um alles niederzuschreiben, wobei es dabei geschehen kann, dass die eine oder andere Änderung noch eingearbeitet wird. In einem dreiwöchigen Urlaub kann ich so durchaus 50-75% eines Buches zu Papier bringen. Neuerdings nutze ich auch Diktiersoftware, so dass es durchaus noch schneller gehen kann – immer vorausgesetzt ich weiß genau, was ich schreiben will.
CK: Wie gehen Sie an die Entstehung eines Romans oder einer Erzählung heran und wie lange dauert es von der Idee zum fertigen Buch?
AK: Die Idee kommt in aller Regel über Nacht, sie ist wirklich irgendwann einfach da. Dann wird sie im Hinterkopf gewälzt, bis der Handlungsstrang von der ersten Sequenz bis zur Schlussszene vorhanden ist, danach setze ich mich hin und schreibe los.
Die Zeit, die von der Idee bis zum fertigen Buch vergeht, ist völlig unterschiedlich. Da ich (leider) nicht von meiner schriftstellerischen Tätigkeit lebe, muss ich mich auch nicht abhetzen. Allerdings beobachte ich, dass die zeitlichen Abstände kürzer werden. Für die letzten Bücher habe ich jeweils ungefähr ein halbes Jahr pro Buch gebraucht, wobei böse Zungen ja behaupten, ich hätte noch nie einen Roman geschrieben, das seien alles bestenfalls Novellen. Egal, was zwischen zwei Buchdeckeln veröffentlicht wird ist für mich ein Buch.
An die Phase der Erstellung schließt sich dann noch das Korrektorat und Lektorat an, das kann jeweils auch noch einmal lange dauern, dann muss ein Künstler für das Titelbild ran und irgendwann hält man dann das Kleinod in Händen und … es ist für den Autor schon kalter Kaffee, weil er im besten Fall bereits mindestens ein Werk weiter ist und ihn das Buch von Vorvorgestern eigentlich gar nicht mehr so brennend interessiert, er hat sich die Geschichte ja bereits selbst erzählt. Die Geschichte, die er vorher selber noch nicht kannte. – Aber dann muss sie vermarktet werden und dann muss der Autor noch mal ran und den Lesern den „kalten Kaffee“ als heißes Getränk verkaufen. – Auch nicht einfach. Ich bin aktuell (Ceres ist der aktuell erschienene Roman) bereits drei Bücher weiter. Noch im Sommer wird Sylvej erscheinen, im Herbst Lvdowigvs von Lüttelnau und aktuell schreibe ich an Derolia. Nicht, dass ich den Markt überschwemmen will, aber die Verlage benötigen manchmal verdammt viel Zeit.
CK: Mir ist aufgefallen, dass Sie in Ihren Romanen und Kurzgeschichten gerne auch Themen des aktuellen Zeitgeschehens, wie etwa den in Europa zu beobachtenden Rechtsruck oder den Brexit, aufnehmen. Ist das eine bewusste Entscheidung auch im Sinne einer Warnung oder nur fiktionales Spiel?
AK: Das ist eine sehr bewusste Entscheidung. In Zeiten wie diesen muss man m. E. als Autor Farbe bekennen. Ich habe mich als Jugendlicher und junger Erwachsener lange gefragt, wie man es in Deutschland hat zulassen können, dass die Nationalsozialisten hoffähig wurden, dass sie eine Wahl gewinnen konnten und Deutschland und die Welt mit dem schlimmsten Regime überzogen, dass die Welt bis dato gesehen hat.
Nun, Geschichte kann sich wiederholen. Ich empfinde die heutigen Zustände als ähnlich genug, um den warnenden Zeigefinger zu erheben.
Außerdem habe ich auch noch eine sehr persönliche Sicht der Dinge.
Mein Großvater, der Vater meines Vaters, ist 1933 mit Hurra in die SS eingetreten, war lange Jahre „Feierabend SS-Mann“, saß dann aber 1943 im SS-Hauptamt in Berlin in der Statistikabteilung von Dr. Richard Korherr. Letzterer berichtete Himmler direkt, zu der Abteilung gehörten damals elf SS-Leute und neun Sekretärinnen. Hier wurde jegliche für die Reichsführung wichtige Statistik erstellt, so auch der sog. „Korherr-Bericht“, der festhielt wie viele Juden denn wo im Reich wohnten …
Das alles habe ich in mühsamer Kleinarbeit vor einigen Jahren recherchiert, zur Rechenschaft gezogen wurde mein Großvater zu Lebzeiten nicht.
Wenn man sich, wie ich, so intensiv mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt, bleibt es nicht aus, diese Erkenntnisse mit zu verarbeiten.
CK: Würden Sie sagen, dass sich Science Fiction besonders gut eignet, um politische Themen aufzugreifen?
AK: Definitiv ja. Es gibt kein anderes Genre, das dasselbe zu leisten vermag, sehen wir einmal von historischen Romanen ab, die sich politisch anspruchsvolle Zeiten für die Handlung aussuchen.
Warum haben die Nationalsozialisten die vorhandene Science Fiction-Literatur (sie hieß anders) in Deutschland verboten oder gleichgeschaltet? Ein Paradebeispiel sei genannt: Kurd Lasswitz, einer der Väter der Science Fiction. Ein deutscher Schriftsteller, der es den Nationalsozialisten zu verdanken hat, dass er heutzutage fast vergessen ist.
Die Science Fiction kann als reiner Abenteuerroman daherkommen, sie kann aber auch und gerade da unterschwellig eine Botschaft transportieren. Der Autor kann politische Themen darstellen, indem er z. B. die Perspektive verändert. Aus den Ausländern, den Asylanten können problemlos die Aliens werden, die ja grundsätzlich hassenswert sind, solange man sie nicht näher kennenlernen muss…
CK: Heute haben wir im Rahmen des Studientages viel über „Zeitreisen“ gesprochen. Könnten Sie sich bei einer technisch möglichen Umsetzung vorstellen, mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit oder Zukunft zu reisen?
AK: Nein! Definitiv nein! Ich bin ein Kind dieser Zeit, ich könnte mir nicht vorstellen in der Vergangenheit zu leben (da müsste ich auf zu viele Annehmlichkeiten verzichten, dazu die ganzen mittlerweile überwundenen Krankheiten) und in der Zukunft würde ich mich (behaupte ich mal) nicht zurechtfinden, auch wenn ein gewisser Reiz besteht. – Da bleibe ich lieber hier.
CK: Mein ganz persönlicher Eindruck ist, dass momentan ein großes Interesse an Science Fiction und an Dystopien in der Literatur besteht. Daher die Frage, wo Sie das Genre der Science Fiction in zehn Jahren sehen?
AK: Da müssen wir erst einmal unterscheiden. Das Genre bedient sich unterschiedlicher Medien. In unser aller Wahrnehmung ist die Science Fiction seit Jahrzehnten aus der öffentlichen Diskussion überhaupt nicht mehr wegzudenken. Wie viele Blockbuster im Kino sind denn der Science Fiction zuzurechnen? M. E. deutlich mehr als 50%. Das dürfte sich noch weiter verstärken, ist auch zu beobachten, denn wenn es die Science Fiction bereits bis in den Tatort schafft (da gab es vor Jahren einen perfekten Film mit Lena Odenthal und Dietmar Schönherr, unbedingt sehenswert, wie in der Schlussszene das Raumschiff abhebt), dann gibt es kaum noch eine Steigerung außer der, dass sie uns überall begegnen wird.
Und das ist ja auch wirklich der Fall. Ich werde jetzt 55 Jahr alt. In meiner Kindheit (meine Güte, wie hört sich das jetzt an) gab es keine Handys und selbstfahrende Autos waren eine belächelte Phantasie (mit PH, mit F gibt das einen anderen Sinn) von Science Fiction-Schriftstellern.
Was ich damit sagen will, ist, dass die Science Fiction das wichtigste Literaturgenre der heutigen Zeit ist, setzt sie sich doch mit genau dem auseinander, in und mit dem wir uns den Rest unseres Lebens herumzuschlagen haben werden.
Und …, Literaturnobelpreisträger sind sich nicht zu schade, Science Fiction zu schreiben. Welche? Nun, fangen wir mal mit Günther Grass an (Die Rättin z. B.) oder Doris Lessing. Ich könnte noch weitere aufführen, aber das würde den Rahmen sprengen.
Trotz und alledem fristet die Science Fiction als Literaturgattung ein Schattendasein. Ist verpönt und wird gerne in die Schmuddelecke (unter den Ladentisch! Warum wohl? Könnte das auch noch eine Folge der nationalsozialistischen Verdrängung sein? Damals wurden solche Romane tatsächlich unter dem Ladentisch verkauft) gedrängt.
Aber Literatur, das ist zumindest meine Wahrnehmung, befindet sich generell auf dem absteigenden Ast. Ich behaupte, dass große Teile der Bevölkerung nicht oder, wenn überhaupt dann nur sehr wenig, lesen (evtl. noch die Bild Zeitung). Andere Teile lesen dafür sehr viel, aber das ist trotzdem kein Ausgleich. Ob die vielzitierten Neuen Medien wirklich ausreichen, um den Menschen zukünftig mit kritischen Texten zu versorgen, möchte ich bezweifeln. Ich sehe da eher die Gefahr der Beeinflussung großer Massen der Bevölkerung, aber das ist ja auch schon wieder ein Science Fiction-Thema.
CK: Herzlichen Dank für das Interview und frohes Schaffen!
Das Interview wurde im Rahmen des Studientags „Zeitreisen“ geführt.