von Larissa Plath
„Expressionismus und alle anderen unkonventionellen Dramentechniken haben nur ein wichtiges Ziel, und das ist, der Wahrheit näher zu kommen“, so Tennessee Williams in seinem Vorwort zur Glasmenagerie. Das Schauspiel Wuppertal bringt den 1944 uraufgeführten, stark biographisch inspirierten Klassiker in einer werkgetreuen, dabei gleichzeitig aktualisierten Version auf die Bühne und begibt sich im Spiel der Erinnerungen auf die Suche nach der Wahrheit hinter der Illusion.
„Morgenstuuund’ hat Gold im Muuund, Morgenstund’ hat Gold im Mund…!“ Anfangs noch fröhlich geträllert, klingen die ermunternden Worte Amanda Wingfields (Julia Wolff) mit jeder Wiederholung ungeduldiger, fordernder, verfehlen sie doch die gewünschte Wirkung bei ihren beiden Kindern Tom (Konstantin Rickert) und Laura (Lena Vogt). Angesichts des eintönigen, trostlosen Alltags im Hause Wingfield erscheinen Amandas Worte leer, geradezu ironisch. Ihrem eigenen unerfüllten Leben verleiht sie durch die Rückbesinnung auf ihre Jugend, die verheißungsvollen Jahre als Südstaatenschönheit in Blue Mountain, den nötigen Glanz. Für Sohn Tom, der die Rolle des Familienernährers übernommen hat, hält der bevorstehende Tag nichts weiter bereit als die verhasste Arbeit im Lagerhaus, Zuflucht findet er lediglich in den illusorischen Welten des Kinos. Das Leben seiner in sich gekehrten, psychisch fragilen Schwester Laura spielt sich vorwiegend innerhalb der vier Wände der gemeinsamen Wohnung ab. Im Theater am Engelsgarten strahlt diese in Form eines gewaltigen dunkelblauen Überseecontainers eine mehr als beklemmende Enge aus und ist bis in den letzten Winkel zugestellt mit übereinandergestapelten Möbelstücken und anderem Gerümpel – symbolische Relikte der Vergangenheit, die das gegenwärtige Leben der drei Wingfields auf unterschiedliche Weise belasten. Mittendrin eine von einem goldenen Rahmen umgebene männliche Schaufensterpuppe, eine Reminiszenz an den Vater, der die Familie schon vor Jahren verlassen hat und in vielen Momenten doch allgegenwärtig scheint. Besonders durch die wiederholten Beschuldigungen Amandas gewinnt er an Präsenz, da diese in seinem Weggang den Hauptgrund für die Misere der Familie sieht.
Halt gebende Realitätsflucht
Als Erzähler seiner eigenen Familiengeschichte ist Tom Wingfield derjenige, der die Geschehnisse rückblickend aus der zeitlichen und räumlichen Distanz betrachten kann. Schon in seinem einleitenden Monolog klingt Toms Faszination für das Kino und besonders für die großen Leinwandhelden an: In der Rolle des Batman, ausstaffiert mit Maske und Umhang des ambivalenten Helden, blickt Tom vom Dach des Überseecontainers aus auf die gemeinsame Zeit mit Mutter und Schwester zurück. Er öffnet das verschlossene Behältnis, gewährt Einblick in sein vorheriges Leben und setzt so das Spiel der Erinnerungen in Gang. Wenn der Container durch die sich drehenden Bodenplatten der Bühne in Bewegung gerät, kreist er einem Karussell gleich stetig um sich selbst, bildet einen fixen Ankerpunkt der konservierten Erinnerungen inmitten einer desillusionierenden Gegenwart. Die buchstäblich verschachtelte Vergangenheit findet ihren Ausdruck durch eine weitere Ebene innerhalb des Spiels: Laura bewahrt ihre Sammlung fragiler Glasfigürchen in einer Miniaturversion eben dieses Überseecontainers auf und hält sich an diesem geschützten Raum fest, der für sie fernab der Realität existiert.
Mutter Amandas einzige Hoffnung für eine bessere Zukunft liegt darin, ihre geistig entrückte Tochter doch noch an den Mann zu bringen. Als Tom ihrem Drängen schließlich nachgibt und seinen alten Bekannten und Arbeitskollegen Jim O’Connor (Alexander Peiler) zum Abendessen einlädt, sorgt dieser tatsächlich für einen Hoffnungsschimmer im Hause Wingfield. Amanda, im jugendlichen Reifrock-Kleid, auf dem Kopf ein Strohhut mit Schleife, betritt wie einst Scarlett O’Hara die Bühne und begibt sich mit der Aussicht auf einen potentiellen Schwiegersohn in die akribisch vorbereitete Verkupplungsszenerie. Dabei legt sie einen gezierten Kleinmädchencharme an den Tag, der von den anderen mehr oder minder geduldig ertragen und bisweilen mit einem kurzen Augenverdrehen quittiert wird. Tatsächlich scheint ihre Zuversicht jedoch nicht völlig fehl am Platz zu sein: Laura hat den Auserkorenen schon zu Schulzeiten bewundert und kann sich nach anfänglicher Zurückhaltung dem unbekümmert charmant daherkommenden Jim gegenüber öffnen. Auf den zweiten Blick zeigt sich zwar, dass auch Jim an einem idealisierten Bild seiner damals vielversprechenden Schulzeit festhält; dennoch gelingt es ihm, Laura für einen Moment lang aus ihrer Traumwelt in die Realität zu holen.
Die Inszenierung unter der Regie Martin Kindervaters überzeugt besonders durch ihre vielschichtigen Bedeutungsebenen. Innerhalb des Dargestellten fungiert Toms Realitätsflucht in die Welten des Films als ein Ventil für seine Frustration und ermöglicht die Abkehr von den Engen des vergangenheitsorientierten Lebens der anderen Familienmitglieder. Gleichzeitig eröffnet das Geflecht von populärkulturellen Verweisen, in das auch einzelne Lieder aus den Soundtracks der jeweiligen Filme eingebettet werden, dem Zuschauer einen Raum für individuelle Anknüpfungspunkte. Tom wechselt, zumindest äußerlich, von einer Rolle in die nächste, tritt mal mit rotem Schottenrock bekleidet als Braveheart auf, mal im geblümten Hemd mit Anglerhut und getönter Sonnenbrille in bester Fear and Loathing in Las Vegas-Manier. Tom und Jim als Cowboys, einträchtig nebeneinander sitzend und rauchend, rufen Assoziationen zu Brokeback Mountain hervor. Zu dem gemeinsamen Abendessen mit Jim erscheint Laura in Anlehnung an die Killerbraut aus Kill Bill im knallgelben Overall und knüpft so an ihre anfängliche Darbietung des Liedes Bang Bang an, das zum Soundtrack von Quentin Tarantinos Kultfilm gehört. Die Kostüme der Filmhelden wirken dabei niemals aufgesetzt oder unpassend, sondern fügen sich in Form einer schützenden, maskenhaften Oberfläche in das realitätsferne Handeln der Figuren ein.
Starkes Spiel, das nachklingt
Vieles bleibt ungesagt in Williams’ beklemmender Tour de Force durch die Erinnerungen an das zerrüttete Familienleben der Wingfields. Auch in Momenten des Innehaltens und der Stille weiß das Wuppertaler Ensemble die Beziehungen zwischen den Figuren zu offenbaren, die Vertrautheit zwischen den Geschwistern und Lauras aufkeimendes Vertrauen zu Jim ebenso wie Amandas stoisch-fordernde Haltung gegenüber ihren beiden Kindern. Julia Wolff manövriert ihre Interpretation der ehemaligen Blue Mountain-Schönheit leichtfüßig durch das Auf und Ab von Amandas jeweiligen Gemütslagen und verleiht ihr einen nervenzehrenden Tonfall, der binnen Sekunden von augenscheinlich liebevoller Schmeichelei zu lautstark anklagenden Vorwürfen wechseln kann. Der frustrierte Tom provoziert die Auseinandersetzungen mit seiner Mutter geradezu und ringt dabei nicht nur mit seinem Umfeld, sondern vor allem mit sich selbst. Konstantin Rickert drückt diese innere Zerrissenheit durch ein körperlich ausdrucksstarke Präsenz aus, bei der er immer wieder in Bewegung ist, die zur Flucht genutzte Leiter am Container heraufklettert, oben angekommen seine Runden dreht, herunter springt und mitunter sogar buchstäblich Kopf steht. Einen Gegenpart zu Rickerts expressivem Spiel nimmt Lena Vogts einfühlsame Darbietung von Lauras introvertierter Behutsamkeit ein, die, ihren Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet, oft so gar nicht von dieser Welt scheint. Überzeugend verbindet Alexander Peiler in der Rolle des Jim O’Connor jungenhaften Charme mit einer ausgeprägten Selbstsicherheit, lässt im Dialog mit Laura Momente der Unsicherheit zum Vorschein kommen und verleiht der Figur des Jim Tiefe.
Im Einklang mit der atmosphärisch dichten Inszenierung gelingt es dem Wuppertaler Ensemble in seinem eindringlichen Erinnerungsspiel eine bedrückende Stimmung zu erzeugen und dabei ein diffuses, über das Stück hinaus nachhallendes Gefühl der Benommenheit heraufzubeschwören. Nach Toms Abgang setzt ein zunächst noch zaghaftes Klatschen ein, das sich langsam aber stetig zu einem lautstarken Applaus steigert. Einen Moment lang, so scheint es, verharrt das Publikum im orientierungslosen Raum der verblassten Erinnerungen, bis sich die Anspannung schließlich löst.
Tickets für die kommenden Vorstellungen sind über die KulturKarte (0202 5637666) erhältlich. Nicht vergessen: Studierende der BUW erhalten nach Reservierung freien Eintritt!
Die Glasmenagerie
Ein Spiel der Erinnerungen
von Tennessee Williams
Deutsch von Jörn van Dyck
Termine im Theater am Engelsgarten:
Sa. 30. Juni 2018 19:30 Uhr
Fr. 06. Juli 2018 19:30 Uhr
Sa. 07. Juli 2018 19:30 Uhr
Inszenierung: Martin Kindervater
Bühne & Kostüme: Anne Manss
Dramaturgie & Produktionsleitung: Peter Wallgram
Regieassistenz: Jonas Willardt
Inspizienz: Charlotte Bischoff
Besetzung:
Julia Wolff: Amanda Wingfield
Lena Vogt: Laura Wingfield
Konstantin Rickert: Tom Wingfield
Alexander Peiler: Jim O’Connor