Thirza Zorniger möchte von Kindesbeinen an Richterin werden und für Gerechtigkeit sorgen. Petra Morsbachs Roman begleitet sie einige Jahre auf diesem Weg und gibt Einblick in den Alltag einer Richterin, deren anfänglicher Idealismus unter den Ansprüchen der Realität unterzugehen droht.
von Ursula Kocher
Petra Morsbach, das ist unbestreitbar, hat jahrelang für diesen Roman recherchiert. Genau das hat ihm aber nicht gut getan. Wer laut Danksagung „[e]twa fünfzig Juristen, darunter über dreißig Richter verschiedener Instanzen der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit aus fünf Bundesländern“ befragt hat, möchte offenbar dieses erworbene Wissen auch mitteilen – selbst wenn damit Romanfiguren in Geiselhaft genommen werden müssen. Auf diese Weise wird Thirza nicht nur zur Gefangenen ihrer Arbeit, sondern auch des Erzählers.
„[V]on mir bleibt nichts“, befürchtet Thirza mit Recht, die Rechtsprechung aber wird bleiben bis zum Ende des Romans. Plastisch werden in dem Roman allenfalls die Bezugspersonen der Hauptfigur, vor allem Max, der die Unglückliche schließlich doch glücklich macht, um dann tragischerweise an Krebs zu erkranken. Nein, damit ist dem Leser keine Überraschung genommen, der Erzähler deutet es früh genug an. Überraschend ist allerdings das Sterben selbst, vor allem da es die einzige Stelle ist, an der einem das Schicksal Thirzas wirklich nahe geht. Sie erkennt – kurzzeitig –, was wirklich wichtig ist, aber eben nur kurz. Dann: „Weiterarbeiten. Urteile schreiben.“ Was sollte sie auch sonst tun? Umkehren, neue Wege gehen, endlich sie selbst sein. Alternativen, die offensichtlich allein dem Leser einfallen.
Thirza ist und bleibt fremdbestimmt, durch Erzähler und Figuren. Sie verschwindet geradezu durch ihre stoisch-resignative Haltung, die mehr als provozierend ist. Da Max Sinn für Kultur hat, passt sie sich an und räumt ihre Liebesromane von Hedwig Courts-Mahler in den Keller. Nach Max‘ Tod holt sie sie wieder hervor, denn die Bücher des Verstorbenen finden ihre Gnade nicht: „Goetz: viel zu lange Sätze, davon hab ich schon im Beruf genug! Morsbach – keine Ahnung, was daran komisch sein soll.“ In der Tat: keine Ahnung.
Wahrscheinlich ist dies das Problem: Der Leser traut der Protagonistin nach spätestens 200 Seiten nichts mehr zu, weil Petra Morsbach ihr nichts zutraut. Damit geht es Thirza nicht besser als dem Leser selbst, dem Informationen gerne auch zweimal mitgeteilt werden, nur für den Fall, dass er bei der Vielzahl an Fallbeschreibungen etwas vergessen haben könnte. So wird auf Seite 196 berichtet, dass Thirza, die unter Karl Römer kaum Verhandlungserfahrung sammelt, sich möglichst viel als Mediatorin betätigt, um zumindest ein wenig selbständig zu bleiben. Auf Seite 313 heißt es dann erneut: „Bei aller Belastung möchte Thirza nicht auf Mediationen verzichten. Die Zusatzausbildung hatte sie noch zur Römer-Zeit gemacht, weil Mediationen Gelegenheit zu selbständigem Verhandeln boten, was Römer sonst nicht zuließ.“ Das musste sicher mehrfach gesagt werden, weil die zumeist leblosen Figuren recht schnell wieder in Vergessenheit geraten. Wer war Karl Römer noch einmal genau?
Was aber bleibt? Dass Rechtsprechung nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat. Dass Glück relativ ist. Dass das Leben ein Verräter ist. Dass Politiker korrupt und die Justiz durch und durch misogyn sind. Dass eine Richterin mehr Fälle bearbeiten muss, als auf nahezu 500 Seiten erzählt werden kann. Während Thirza am Ende zusammenbricht – keine Sorge, sie stirbt nicht –, erschüttert sie eine Erkenntnis: „10.000 Urteile. Und alles, was von mir bleibt, ist eine leere Robe.“ Eine Robe unter vielen, die nur mühsam individualisiert wurde, „[e]in goldgesticktes Namensetikett (etwas übertrieben, aber eine andere Farbe gab es nicht) zum Schutz gegen Kollegen“. Die Robe als Häftlingskleidung. Es wäre Thirza zu wünschen gewesen, dass sie sich irgendwann davon hätte befreien können.
Der Knaus-Verlag hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.