Nicht immer hat man die Zeit und/oder Muße, sich einem 800 Seiten langen Roman zu widmen. Wie schön, dass es auch Kurzgeschichten und Erzählungen gibt, die in Sammelbänden veröffentlicht werden – so hat man auch als gestresster Leser die Möglichkeit, sich zwischendurch guter Literatur zu widmen. Acht bemerkenswerte Kurzgeschichtensammlungen stellen wir euch hier vor.
Julia empfiehlt:
Peter Stamm – Blitzeis
Weihnachten mit Fremden in einem New Yorker Pub. Ein gezwungenes Rendezvous mit einer uninteressanten Frau. Eine Affäre und ein Unfall am nächtlichen Thurgauer Weiher. Neun sehr kurze Erzählungen werfen den Leser ohne große Erklärungen mitten in unbehagliche Momentaufnahmen aus dem alltäglichsten Leben, das man sich vorstellen kann. Peter Stamms Geschichten kennen keine perfekten Beziehungen, keine glücklichen Zufälle und keine Helden – oftmals nicht einmal Sympathieträger. Der Schweizer Autor ist ein Meister der Beobachtung und versteht es, mit nur wenigen Details eigenwillige Charaktere und klare Umgebungen zu zeichnen und dem Leser das Füllen der Leerstellen zu überlassen. In seinen Kurzgeschichten kommt der prägnante Stil, der jedem Ich-Erzähler wieder eine andere Stimme verleiht, sogar noch besser zur Geltung als in seinen Romanen. Wer Sprache liebt, aber kein Happy End braucht, ist hier zu Hause.
Nadine empfiehlt:
Neil Gaiman – Nordische Mythen und Sagen
Odin, Thor, Loki und Co. Kennt man heutzutage vor allen Dingen durch die Marvel-Filme. Schade, denn gerade die alten Mythen und Sagen versprühen ihren ganz eigenen Charme. Neil Gaiman erzählt ebendiese in seinem Buch nach. Dabei stützt er sich auf Snorri Sturlusons Prosa-Edda und die noch ältere Lieder-Edda. Er erzählt, wie der Welt der Götter entstand, wie Odin sein eines Auge verlor, was mit Lokis unehelichen Kindern geschah, wie der Skaldenmet erfunden wurde, der jeden, der ihn trinkt, zum Dichter werden ließ, wie die Götter die Riesen um Freyas Hand betrogen – und natürlich von der Götterdämmerung Ragnarök. In schlichter Sprache lässt Gaiman die Helden- und Schandtaten der nordischen Götter zum Leben erwecken. Thematisch versierte Leser könnten sich eventuell langweilen, Neulinge der nordischen Mythologie jedoch werden mit Freude feststellen, wie spannend die alten Sagen sind.
Lara empfiehlt:
George Watsky – Wie man es vermasselt
George Watsky, der als Spoken Word-Poet und Musiker bekannt ist, hat mit Wie man es vermasselt sein erstes Buch geschrieben. Darin breitet er in 13 kurzen Anekdoten die Hoch- und Tiefpunkte seines Lebens vor dem Leser aus. Schonungslos ehrlich berichtet er von peinlichen Momenten auf dem Schulhof, schiefgegangenen Auftritten und seiner erfolglosen Basketball-Karriere. Bei alldem betrachtet er nicht nur seine persönlichen Misserfolge, sondern reflektiert auch seine eigene künstlerische Karriere, die mittlerweile Fahrt aufgenommen hat.
Watskys Schreibstil orientiert sich an der gesprochenen Sprache. Einige der zum Teil absurden, geradeheraus geschilderten Erzählungen werden die gleichaltrigen Leser zumindest vage an persönliche Erfahrungen erinnern. Andere wiederum sind so verrückt, dass man nicht glauben würde, dass der Autor sie tatsächlich erlebt hat.
Eine ausführliche Rezension von Watskys Wie man es vermasselt findet ihr bei uns.
Alex empfiehlt:
Callan Wink – Der letzte beste Ort
Die Kurzgeschichtensammlung von Callan Wink mit dem Titel Der letzte beste Ort umfasst neun Stories. Der Autor erzählt von einfachen Menschen, die ihr eigentliches Ziel immer mehr aus dem Blick verloren haben und in einem harten und arbeitsreichen Alltag gefangen sind. Dazu kommen schmerzliche Verluste und falsche Entscheidungen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass zwischenmenschliche Beziehungen eine zentrale Rolle spielen. Neben den Figuren steht vor allem die einzigartige Natur um die Rocky Mountains und die Ausläufer des Yellowstone Rivers im Mittelpunkt der Erzählungen. In kurzen präzisen, teilweise bildhaften Sätzen lässt Callan Wink dieses Naturpanorama lebendig werden. Dieses Zusammenspiel aus rauer und wilder Natur und Existenzen an einem wichtigen Punkt im Leben, bietet einen ganz besonderen und eigenen Reit, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Julia empfiehlt:
Saša Stanišić – Fallensteller
Saša Stanišićs Erzählsammlung Fallensteller begeisterte 2016 mit enormer sprachlicher Dichte und schalkhaftem Humor die Feuilletons. Drei der insgesamt zwölf Erzählungen – von denen die längste an seinen Roman Vor dem Fest anknüpft – werden im Lauf des Sammelbandes fortgesetzt, was zu ihrer episodenartigen Reisethematik passt. Ein junges Duo begeht in Stockholm einen spontanen Diebstahl mit noblen Absichten, ein alter Hobby-Zauberer erhält nicht die Aufmerksamkeit, die er verdient und ein Brauerei-Justiziar steckt nicht nur in Brasilien fest, sondern auch in einer Sprachkrise. Stanišićs Geschichten spielen fernab vom Alltag und erzählen mit verschiedensten Konnotationen von der Fremde und der mit ihr einhergehenden Fremdheit. Zahlreiche Formulierungen muss man sehr genau und mehrfach lesen, nicht nur weil sie fantastisch klingen, sondern auch weil sie voller Pointen und Sprachspielereien stecken, die man im Schnellen allzu leicht überliest – denn auch Stanišić ist ein wahrer Fallensteller, obwohl der gebürtige Bosnier selbst erst seit seinem 14. Lebensjahr in Deutschland lebt.
Anthoula empfiehlt:
Stephen King – Nachtschicht
Wer Kings Romane Brennen muss Salem und The Stand schon kennt, darf sich auf weitere Kurzgeschichten freuen. Die Kurzgeschichtensammlung Night Shift (Nachtschicht) hat zwei spannende Vorgänger: Jerusalems Lot (Briefe aus Jerusalem) und Night Surf (Nächtliche Brandung). Aber auch für diejenigen, die gerne gruselige Geschichten rund um den Boogeyman, mutierte Tiere, verfluchte Gegenstände und Spielzeuge oder einfach Science Fiction mit Horror lesen, ist dieses Buch mit seinen 20 Kurzgeschichten geeignet. Alle Horrorliebhaber wissen, wie spannend und gruselig King eine friedliche Situation gestalten kann. In diesem kleinen Werk beweist er wieder sein Können. Ihr werdet nicht enttäuscht sein.
Larissa empfiehlt:
Lucia Berlin – Was ich sonst noch verpasst habe
Lakonisch, nüchtern, ungerührt – mit diesen drei Worten lassen sich die Erzählungen der amerikanischen Autorin Lucia Berlin beschreiben, die zwischen den 1960er und 1980er Jahren entstanden und erst in den letzten Jahren wiederentdeckt wurden. Mit der Veröffentlichung des 2015 erschienenen Erzählbandes A Manual for Cleaning Women erlangte die bis dahin nahezu in Vergessenheit geratene Autorin größere Bekanntheit und wird seither in einem Atemzug mit Meistern der amerikanischen short story wie zum Beispiel Dorothy Parker und Raymond Carver genannt.
Der Band Was ich sonst noch verpasst habe präsentiert eine Auswahl von Berlins Erzählungen und lässt auch in der deutschen Übersetzung die klare, intensive Sprache der Autorin durchscheinen. Die knappen Texte geben für einen kurzen Moment Einblick in die oftmals prekären Lebensumstände der meist weiblichen Protagonisten, beschreiben Alltägliches ohne selbst eintönig zu sein und werfen eher Fragen auf, als Antworten zu bieten. Berlin schildert die Schattenseiten ihrer Existenz mit makaberem Humor und brutaler Schärfe; der Leser wird angesichts der schonungslosen Offenheit nicht selten bestürzt zurückgelassen.
Julia empfiehlt:
Marie T. Martin – Luftpost
Wie schon der Titel des 2011 im poetenladen erschienenen Sammelbandes bleiben auch die Figuren der fünfzehn Erzählungen von Marie T. Martin vage und voller Interpretationsspielraum: Alter oder Geschlecht der namenlosen Protagonisten lassen sich höchstens erahnen. Doch gerade dadurch sprechen ihre eigentlich sehr unterschiedlichen Helden alle dieselbe Sprache und bieten dem Leser ein besonderes Identifikationspotential auf ihren poetisch-alltäglichen Reisen in neue Lebensabschnitte. Die Handlung der nur wenige Seiten starken Episoden könnte man in wenigen Sätzen zusammenfassen, was ihnen aber gemeinsam ist und sie besonders macht, ist ihre Stimmung: Martins Geschichten sind von einer Melancholie geprägt, die nicht erdrückend wirkt, sondern an die liebevolle Wehmut erinnert, die Neuanfänge mit sich bringen – eine Stimmung, aus der man erst lange nach Ende der Lektüre wieder auftaucht. Kein Wunder, dass die junge Autorin auch Gedichte schreibt.