Tausendundeine Wahrheit: Neil LaButes „Zur Mittagsstunde“ am Schauspiel Wuppertal

Foto: Uwe Schinkel

IMG_7799von Julia Wessel

Ein Amoklauf mit 37 Toten – und einem Überlebenden. Für John Smith gibt es dafür nur eine Erklärung: Gott hat ihn auserwählt und ihm die Chance gegeben, ein besserer Mensch zu werden. Doch Johns Umfeld traut dem plötzlichen Sinneswandel nicht. Ab dem 5. Mai zeigt das Schauspiel Wuppertal mit „Zur Mittagsstunde“ erstmalig ein Stück des US-Amerikaners Neil LaBute, der neben seiner Tätigkeit als Dramatiker unter anderem bei Filmen wie „Besessen“ (2002) und „The Wicker Man“ (2006) Regie führte. Ein Werk über Zufall und Vorsehung, Neuanfänge und Theodizee, inszeniert von Schirin Khodadadian.

Nachdem die aktuelle Spielzeit unter dem Motto „Alles Spiel“ bereits verschiedene Seiten der Entstehung von zwischenmenschlichem Spiel beleuchtet hat, zuletzt mit Anne Leppers „Mädchen in Not“, rückt nun die radikale Selbstinszenierung einer Person in den Fokus. Im Gespräch mit verschiedenen Menschen aus seinem Umfeld enthüllt John dem Publikum Stück für Stück die Wahrheit um sein geheimnisvolles Überleben – Oder sind es immer wieder andere Versionen derselben Geschichte? Schließlich sind Überlebende in einem Mordfall auch immer Verdächtige. Wie konnte er beispielsweise ein Foto des Tatorts aufnehmen und im Anschluss lukrativ verkaufen? Aber mit dem Totschlagargument „Gott“ endet nun einmal jede Diskussion.

Als Meister der Dialogführung bricht LaBute archaische Themen auf alltagstaugliche Debatten herunter, etwa die Frage was es heißt, ein guter Mensch zu sein, ob Wirklichkeit Beweise braucht – und wenn ja, zu welchem Preis – und nicht zuletzt die zeitlose Frage nach dem Gottesbeweis. LaBute wuchs selbst als Mormone auf, musste die Kirche allerdings aufgrund der sinnsuchenden Inhalte seiner Werke verlassen und, ebenso wie sein Protagonist, ein neues Leben beginnen. So bewegt sich auch „Zur Mittagsstunde“ zwischen dem menschlichen Verlangen nach Erklärungen und greifbaren Belegen und dem gleichzeitigen Bedürfnis, ohne jeden Zweifel an etwas zu glauben. Das Publikum wird dabei Zeuge und Richter zugleich, durchlebt Ablehnung, Mitleid und Verständnis gegenüber dem größenwahnsinnigen Protagonisten, der sich nach einem traumatischen Erlebnis die einzig wichtige Frage stellt:
Warum ich?

Um LaButes schablonenartige Figurenzeichnung auszureizen, sind die sieben Nebenrollen mit nur zwei Schauspielern besetzt: Stefan Walz verkörpert die männlichen und Philippine Pachl die pragmatischen weiblichen Skeptiker des von Thomas Braus dargestellten Protagonisten John Smith, dessen eigenes stereotypes Wesen sich bereits in seinem Namen spiegelt. Durch die reduzierte Besetzung werden Johns Irritationsmomente im Erkennen der Ähnlichkeiten zwischen den teils miteinander verschmelzenden Figuren auch für den Zuschauer sichtbar. Unterstützt wird dieser Effekt durch die Kostüme Carolin Mittlers, deren Bühnenbild die Wahrheitssuche der Beteiligten auf einem Podest, einer Bühne auf der Bühne, ausstellt. Carolin Mittler und Regisseurin Schirin Khodadadian sind durch die gemeinsame Inszenierung von „Nathan der Weise“ in der vergangenen Spielzeit bereits ein eingespieltes Team. Katrin Vellrath sorgt für die musikalische Begleitung und Christian Franzen setzt Gottes Offenbarung mit Lichteffekten in Szene.

Antworten auf die großen Fragen, die das Stück aufwirft, gibt das Schauspiel Wuppertal nicht. Vielmehr ist die Inszenierung eine Aufforderung zur Skepsis und zum Perspektivwechsel, ein Krimi mit Parabelcharakter, eine moralische Achterbahnfahrt.

 

Zur Mittagsstunde
(The Break Of Noon) von Neil LaBute
Deutsch von Frank Heibert

Inszenierung: Schirin Khodadadian
Bühne & Kostüme: Carolin Mittler
Lichtdesign: Christian Franzen
Musik: Katrin Vellrath
Dramaturgie: Barbara Noth
Regieassistenz: Barbara Büchmann / Jonas Willardt
Inspizienz: Charlotte Bischoff
Produktionsleitung: Peter Wallgram
Regiehospitanz: Kim Florian Eilert

Besetzung:

Thomas Braus: John
Stefan Walz: Anwalt / Inspektor / Ein Mann
Philippine Pachl: Ginger / Jenny / Jesse / Eine Frau

Termine im Theater am Engelsgarten:

Sa. 5. Mai 2018 19:30 Uhr (Premiere)
So. 6. Mai 2018 18:00 Uhr
Sa. 12. Mai 2018 19:30 Uhr
So. 13. Mai 2018 18:00 Uhr
Do. 17. Mai 2018 19:30 Uhr
Fr. 18. Mai 2018 19:30 Uhr
Fr. 22. Juni 2018 19:30 Uhr