Buchtipps: Von Psychosen und chronischen Krankheiten

Geistige Gesundheit wird viel zu oft als der Normalzustand angenommen. Dabei ist sie zerbrechlich und jeder muss sich in seinem Leben irgendwann mit dem Thema auseinandersetzen, ob persönlich, oder im näheren Umfeld. Auch in der Literatur wird psychische Gesundheit immer wieder thematisiert und von verschiedenen Seiten beleuchtet. Wir haben ein paar Bücher zusammengetragen, die uns berührt haben.

Lara empfiehlt:
Ellen Forney – Meine Tassen im Schrank [Graphic Novel]

Die autobiographische Graphic Novel Meine Tassen im Schrank. Depressionen, Michelangelo und ich der Autorin und Zeichnerin Ellen Forney dokumentiert ihre Zeit vor der Diagnose „manische Depression“, die Phase der Akzeptanz und ihr Leben und Arrangement mit der Krankheit. Dabei sind die variierenden Zeichenstile ein direktes Abbild ihrer wechselnden Gefühlslage: In manischen Phasen hat der Leser es mit chaotischen, überladenen Panels zu tun, die vor unübersichtlich angeordneten Textelementen zu platzen drohen. Sie sind durcheinander und voll, das Lettering ist wirr und dem Leser wird abgefordert, sich auf jeder Seite erst einmal neu zurecht zu finden. Die zahlreichen Exzesse der Protagonistin sind in größtem Detailreichtum dargestellt. Ganz anders kommen die depressiven Episoden ihrer Krankheit daher: Sie werden von einem nahezu verhaltenen Zeichenstil gekennzeichnet, der simpel und geordnet ist, die Schrift ordnet sich den Zeichnungen geradezu unter.

Die Akzeptanz ihrer Krankheit schreitet voran, während sie eine lange Liste prominenter Namen – unter anderem Vincent van Gogh, Edgar Allan Poe und F. Scott Fitzgerald – erstellt, von denen sie meint, dass sie ihre Erkrankung teilten. Über diesen Umweg versucht Forney in ihrer neuen Situation zu sich selbst zu finden. Das Medium Graphic Novel eignet sich besonders gut für die Darstellung der Phasen ihrer manischen Depression, da dem Leser der Zusammenhang zwischen Kreativität und der psychischen Erkrankung elegant suggeriert wird. Wer sich auf die chaotische Reise einlässt, wird von Forney auf ein buntes Karussell voller Hochs und Tiefs entführt.

Lili empfiehlt:
Zoran Drvenkar – Du bist zu schnell

Wo liegen die Grenzen zwischen Realität und Psychose? Für Val, die nach einem Drogenexzess in einer geschlossenen Anstalt aufwacht, ist diese Frage kaum zu beantworten. Sie allein sieht ‚Die Schnellen‘ und als sie ihre Freunde ermorden ist klar, dass sie handeln muss. Doch gibt es sie überhaupt? Oder sind sie Nebenwirkungen der Medikamente, die ihre Psychose unterdrücken sollen? Zusammen mit Marek und Theo macht sie sich auf eine gewagte Mission. Werden sie verfolgt, oder sind sie selbst ihre eigenen Verfolger? Zoran Drvenkar lässt seine Protagonisten in Du bist zu schnell abwechselnd eine packende Geschichte erzählen, die auch für den Leser schleichend die Realität verwischt und zeigt, wie böse Menschen sein können.
Wer den Roman nicht lesen möchte, der findet eine Hörspielbearbeitung im WDR Hörspielspeicher.

Larissa empfiehlt:
Sylvia Plath – Die Glasglocke

Im heißen Sommer des Jahres 1953 verbringt Esther Greenwood einen Monat als Gastredakteurin bei einem New Yorker Modemagazin. Für die erfolgsverwöhnte, ambitionierte Literaturstudentin erweist sich die mondäne Scheinwelt der Metropole als desillusionierende Erfahrung. Hin und her gerissen zwischen ihren hochgesteckten Zielen und den gesellschaftlichen Erwartungen, dem Frauenideal der damaligen Zeit zu entsprechen, wird jeder noch so kleine Misserfolg als Scheitern empfunden. Esthers Selbstzweifel wachsen sich zu einer massiven Identitätskrise aus, deren schleichender Verlauf eine schwere Depression nach sich zieht. Ihre zwiespältige Persönlichkeit spiegelt sich in der Sprache des Romans wider, die einerseits nüchtern, beinah unbeteiligt wirkt, andererseits von bildhaften und symbolischen Beschreibungen gekennzeichnet ist.
Sylvia Plaths autobiografisch geprägtes Werk wurde 1963 veröffentlicht, vier Wochen nach der Publikation nahm sich die Autorin im Alter von 30 Jahren das Leben. Plath machte sich einen Namen durch ihre zur confessional poetry gehörenden Gedichte, hinter denen ihr einziger Roman Die Glasglocke (im Original The Bell Jar) zwar in stilistischer Hinsicht zurücksteht, jedoch aufgrund der schonungslosen, beklemmenden Darstellung psychischer Probleme vor allem in den 1970er Jahren zu einem bedeutenden feministischen Werk der Schriftstellerin avancierte.

Julia empfiehlt:
Bill Broady – Schwimmerin

»Es war nicht eigentlich das Wasser, das du so mochtest, sondern eher der Schwebezustand, der dir das Gefühl gab zu fliegen.« Der Tag, an dem sie schwimmen lernt, ist für sie eine Offenbarung. Das Wasser wird ihr bester Freund, ihre Heimat, ihr Zufluchtsort. Als junges Talent im Schmetterlingsstil wird sie in Rekordgeschwindigkeit zum Weltstar vermarktet, immer zur Höchstleistung gezwungen und als Ware verkauft. Doch wer hoch fliegt, fällt auch tief: Mit 19 ist ihre Karriere vorbei, ihre geschundene Seele zerbricht und flieht in eine Welt voller Schmetterlinge, weit weg von der Grausamkeit der Realität. Dabei wollte sie eigentlich immer nur das tun, was sie am besten kann – schwimmen.
Bill Broady dringt mit seinem 2000 erschienenen Romandebüt in die kalt glitzernde Welt des Leistungssports ein und zeichnet auf gerade einmal 128 Seiten das atemlose Psychogramm einer verbrauchten Existenz, von der Gesellschaft verschlungen und zurück an Land gespuckt. Die besondere Du-Form der Erzählperspektive versetzt den Leser auf distanzlose Weise an die Stelle der namenlosen Protagonistin, wodurch deren sozialer und mentaler Absturz umso tiefer unter die Haut geht.

Nadine empfiehlt:
Wolfgang Herrndorf – Bilder deiner großen Liebe

Wolfgang Herrndorfs letztes Werk, das knapp 130 Seiten kurze, posthum veröffentlichte Büchlein Bilder deiner großen Liebe, erzählt die Geschichte von der Jugendlichen Isa, die aus der Psychiatrie abhaut und durch die Gegend streift. Isa wird vielen vermutlich als Nebencharakter aus Herrndorfs wohl wichtigstem Roman Tschick bekannt sein. Fragmentarisch und in oft unvollendeten Kapiteln begleitet der Leser Isa auf ihrem außergewöhnlichen Roadtrip, bei dem sie Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow (Tschick) auf einer abgelegenen Müllkippe begegnet und mit einem angeblichen Bankräuber auf dessen Lastkahn den Fluss entlang schippert. Die völlig verrückte, gleichzeitig aber auch philosophische und melancholische Isa wächst einem ganz schnell ans Herz, obwohl man sich als Leser nie sicher sein kann, ob sie gerade die Wahrheit erzählt oder Realität und Wahn verschmelzen lässt. Auch wenn Herrndorf Isas Geschichte zunächst als Fortsetzung seines Bestsellers Tschick geplant hatte, lässt sich dieser niemals fertiggestellte Roman doch als eigenständiges Buch lesen, als wunderschönes und poetisches Abenteuer einer 14-jährigen Ausreißerin, die man als Leser gerne noch viel länger begleitet hätte.

Janina empfiehlt:
Gavin Extence – Libellen im Kopf

Nachdem sich Gavin Extence in seinem preisgekrönten Debütroman Das unerhörte Leben des Alex Woods sensiblen Themen wie Demenz und Sterbehilfe gewidmet hat, geht es in Libellen im Kopf (Originaltitel: The Mirror World of Melody Black) um psychisch Kranke und ihren Umgang mit sich selbst und ihren Mitmenschen.
Extence schreibt auch in seinem zweiten Roman humorvoll, unaufgeregt und mit liebevoller Präzision über den Alltag seiner Figuren, dieses Mal über die Empfindungen Abbys, einer jungen Journalistin, deren Leben sich aufgrund ihrer manischen Depression nur zwischen den Extremen abspielt: Betäubende Depression oder euphorische Manie. Besonders interessant ist, wie sie in klaren Momenten über ihre Krankheit reflektiert, wie zum Beispiel über die typische fehlende Impulskontrolle:

„Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass geistige Gesundheit nichts weiter war als eine Frage des Benehmens. Sie konnte gemessen werden anhand der Sauberkeit von Haaren, an der Mimik und wie man auf eine Reihe von gesellschaftlichen und sozialen Stichworten reagierte.“

Was diesen Roman so packend und authentisch macht ist wohl die Tatsache, dass Autor Extence selbst jahrelang mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hatte, wie er im Nachwort schildert.

Wo finde ich Hilfe?
Psychische Erkrankungen jeder Art stellen oft eine große Belastung für den Erkrankten und sein soziales Umfeld dar. Nichtdestotrotz gibt es auch in akuten und aussichtslos erscheinenden Fällen Hilfe. Die Telefonseelsorge bietet anonyme und vertrauliche Beratung rund um die Uhr unter der kostenfreien Hotline 0800 111 0 111 und 0800 111 0222 sowie unter www.telefonseelsorge.de