Wie viel ist ein Menschenleben wert? Welchen Preis ist man bereit, für die Freiheit zu zahlen? Und was bedeutet ‚Freiheit‘ eigentlich? Colson Whiteheads Roman Underground Railroad bemüht sich, eben jene Fragen zu beantworten. Er bietet ein ebenso erschreckendes wie berührendes Bild der grausamen Zustände und lebensunwürdigen Bedingungen, mit denen sich die Sklaven in den US-amerikanischen Südstaaten Mitte des 19. Jahrhunderts konfrontiert sahen. Dabei bildet die namensgebende, historische Untergrundorganisation „Underground Railroad“ das Vehikel, das die Sklavin und Protagonistin Cora durch die Stationen ihrer turbulenten Lebens- und Fluchtgeschichte begleitet.
von Lara Ehlis
Cora ist eine Sklavin von vielen, die in dritter Generation auf einer Baumwoll-Plantage in Georgia leben und arbeiten. Sie ist dort aufgewachsen und hat das Gebiet der Plantage ihren Lebtag lang nicht verlassen. Was sie von den anderen unterscheidet, ist die Geschichte ihrer Mutter: Ihr gelang es bisher als Einzige, erfolgreich von der Plantage zu fliehen und von den zahlreichen Kopfgeldjägern unentdeckt zu bleiben. Von dem Sklaven Caesar wird Cora während eines Plantagenfestes dazu überredet, ihn als Glücksbringer auf seiner Flucht zu begleiten.
„Sie bewegten sich zwischen den hohen Pflanzen hindurch, innerlich so verkrampft, dass sie zu rennen vergaßen, bis sie schon halb durch waren. Von ihrem Tempo wurde ihnen schwindelig. Von der Unmöglichkeit des Ganzen.“
Die Flucht verläuft nicht ohne Komplikationen. Ein weißer Junge kommt zu Tode. Von nun an sind Cora und Caesar nicht nur Flüchtige, sondern auch Mörder. Ihnen gelingt es, unentdeckt Caesars Kontaktperson zu erreichen und von dort aus einen Zug der „Underground Railroad“ zu besteigen, welcher sie in Richtung Norden transportiert, wo die Gesetze für Schwarze weniger restriktiv sind und die Sklaverei bereits abgeschafft worden ist. Dort angekommen wähnt Cora sich nach einiger Zeit der Eingewöhnung in Sicherheit, doch sie muss feststellen, dass sich ihre neu erlangte Freiheit als Illusion entpuppt. Es beginnt ein erneutes Versteckspiel mit komplizierten Fluchten über unterirdische Bahngleise in Richtung Norden.
„Zwischen Abfahrt und Ankunft, in einem Zwischenzustand wie die Passagierin, die sie seit Beginn ihrer Flucht war.“
Das im 18. und 19. Jahrhundert tatsächlich existierende, geheim agierende Netzwerk „Underground Railroad“ verhalf zehntausenden von Sklaven zur Flucht in den sicheren Norden. Whitehead nimmt den Namen der historischen Organisation wörtlich und lässt seine Protagonistin mithilfe von Sklaverei-Gegnern und einem fiktiven, unterirdisch erbauten Zugsystem flüchten. Was in der Realität bloß eine Metapher war, wird im Buch zur einzigen Chance auf ein freies Leben für Cora und viele andere: Durch die unter der Erde verkehrenden Dampfmaschinen mit ihren Zugführern und gut versteckten Bahnhöfen erhält der Roman beinahe magische Anklänge.
Der Autor versucht exemplarisch an Cora eine Umgebung darzustellen, die für eine bestimmte Gruppe von Menschen lebensfeindlich ist. In ihr sind Personen und gesellschaftliche Strukturen bis ins Mark von rassistischen Überzeugungen indoktriniert. Selbst nach ihrer Flucht bleibt Cora Eigentum der Vereinigten Staaten von Amerika und gerade das Dokument über diesen Umstand sichert ihr absurderweise die ‚Freiheit‘. Eine immer wieder auftauchende Nebenrolle spielt die Unabhängigkeitserklärung der USA, welche zu Beginn des Romans von einem Sklaven auf der Plantage, nach Aufforderung durch deren Besitzer, rezitiert und später als Beispieltext beim Leseunterricht verwendet wird: Ein Schriftstück, das Freiheit verheißt und dennoch bloß eingeschränkt für Schwarze gilt. So – und auf viele andere Arten – wird die Spaltung der Gesellschaft in (mindestens) zwei Klassen deutlich. Selbst in den Bundesstaaten, die die Sklaverei bereits abgeschafft haben, werden Schwarze als Versuchspersonen für medizinische Experimente benutzt.
Die Darstellung der Parallelkulturen von Schwarzen und Weißen gelingt Whitehead eindrücklich in den Episoden, die auf der Baumwollplantage in Georgia spielen. Dort koexistiert die Sklavenkultur mit ihrer eigenen Musik und ihren – zum Teil harten – Regeln mit der Welt der weißen Plantagenbesitzer, welche jedoch regelmäßig mit gewaltsamen Übergriffen die Grenzen der Bereiche übertreten. Es kann bestenfalls von einer Duldung der Sklavenkultur durch die Plantagenbesitzer die Rede sein. Besonders deutlich wird die Normalität des Grausamen in der Erzählung, wenn die Plantagenbesitzer mit ihrem geladenen Besuch im Freien dinieren, während neben ihnen ein aufgehängter Sklave langsam und qualvoll zu Tode kommt. Andernorts ist der sogenannte „Freiheitsweg“ gesäumt mit aufgeknüpften, verwesenden Schwarzen, die als abschreckendes Beispiel dienen sollen. Die so entstehenden Szenen sind beklemmend und verfolgen den Leser auch dann noch, wenn er das Buch bereits beendet hat.
Colson Whiteheads mit dem Pulitzer Preis 2017 ausgezeichneter Roman Underground Railroad, ins Deutsche übersetzt von Nikolaus Stingl, ist eine entmutigende Erzählung über die grausamen Verhältnisse in den US-amerikanischen Südstaaten Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie berichtet von enttäuschtem Vertrauen, Verzweiflung und von der Freiheit, die im Kontext der eigenen Lebenswelt immer ein relativer Begriff bleibt.