Tausche Mann gegen Puppe: Das Schauspiel Wuppertal zeigt Anne Leppers „Mädchen in Not“

Dolly (Lena Vogt) will auch als Frau wahrgenommen werden. Puppenmacher Duran-Duran (Miko Greza) bleibt unbeeindruckt. Foto: Uwe Schinkel

IMG_7799von Julia Wessel

Baby hat die Schnauze voll. Haus und Kinder will sie nicht, sie will keine Blumen und kein Eis mitgebracht bekommen und ihre beiden Männer – der offizielle und der inoffizielle – schränken sie in ihrer Selbstbestimmtheit ein. Baby will ihre eigene Herrin sein und mit einer Puppe als Mann nach Italien fahren – oder gleich mit zweien! Doch Babys moderner Lebensstil stößt in ihrem Umfeld nicht nur auf Begeisterung. Das Wuppertaler Schauspielensemble zeigt seit vergangenem Samstag Anne Leppers „Mädchen in Not“, eine ebenso skurrile wie brandaktuelle Komödie über Ausgrenzung, Menschlichkeit und den Preis, den eine vollständige Emanzipation erfordert.

„Mädchen in Not“, nach Thomas Melles „Bilder von uns“ das zweite zeitgenössische Stück in der aktuellen Spielzeit, wurde im vergangenen Jahr mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet. Nach der Uraufführung des Nationaltheaters Mannheim ist das Schauspiel Wuppertal erst das zweite Haus, das sich an eine Inszenierung herantraut. Ohne utopische Lösungen zu zeichnen, führt Anne Leppers Stück aktuelle Debatten wie gesellschaftliche Ausgrenzung und den Emanzipationsdiskurs mit comichaftem Humor ad absurdum: Bewaffnet mit rotem Superheldencape und kindlichem Trotz stellt sich Baby der Rollenverteilung der patriarchalen Gesellschaft und wird zur modernen Wonder Woman im Kampf gegen das Böse in Form der „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“, die noch Mitstreiter für Mord und Totschlag sucht. Doch Super-Baby denkt gar nicht daran, zu gewalttätigen Mitteln zu greifen, auch wenn die Gesellschaft ihr in freundlichem Unisono versichert: „Wir begehen jede erdenkliche Art von Verbrechen. Etwas ist sicher für Sie dabei!“

Echte Männer sind etwas ganz Feines. (Duran-Duran)

Die abservierten Liebhaber lassen sich unterdessen aus Angst vor einer Frauenherrschaft bereitwillig vom undurchschaubaren Puppenmacher Duran-Duran zu Puppen umfunktionieren, um Baby von den Vorteilen echter Männer zu überzeugen. Die anfängliche Begeisterung der Protagonistin für ihre neuen Mitbewohner lässt in der Tat schnell nach, während ihre biedere Freundin Dolly immer neidischer auf Babys Glück wird – und ihr damit schließlich Anlass bietet, von der Heldin zur Täterin zu werden.

Starkes Spiel bei werknaher Umsetzung

Anne Leppers Rollen sind den Wuppertaler Ensemblemitgliedern praktisch auf den Leib geschrieben: Konstantin Rickert und Martin Petschan, die sich schon im Räuber Hotzenplotz als Meisterduo der Körperkomik bewiesen, bieten als verzweifelt diensteifrige Männerpuppen ein wahres Feuerwerk an Slapstick und mimischem Spiel. Miko Greza glänzt wie so oft mit beunruhigender Freundlichkeit als zwielichtiger Puppenmeister Duran-Duran. Eindrucksvoll inszeniert ist auch die aus Laien zusammengestellte Gesellschaft der Freunde des Verbrechens, deren Auftritte durch aufwendig choreografierte Bewegungen und eingängiges Synchronsprechen eine bedrohliche Dynamik entwickeln. Das Mauerblümchen Dolly wird mit ihrer verzweifelten Suche nach Liebe durch Lena Vogts haarsträubend intensives Spiel zur eigentlichen Heldin des Stücks, während Julia Rezniks Protagonistin daneben beinahe etwas verblasst und der Wechsel von der Heldin zur Superschurkin etwas willkürlich geschieht.

Auch die Gesamthandlung wirkt sprunghaft: Ohne große Szenenwechsel tauchen Figuren auf und wieder ab, eine stringente Entwicklung ist schwer nachzuzeichnen. Doch gerade diese collageartig nebeneinandergestellte Darstellungsweise der Inszenierung Peter Wallgrams wird dem vielschichtigen Originaltext von Anne Lepper gerecht, der ohne jede Interpunktion auskommt und eine wahre Flut an literarischen und popkulturellen Zitaten bietet. So wird die im Schloss Lacoste beheimatete Gesellschaft der Freunde des Verbrechens zur überspitzten Hommage an den Urheber des Sadismus, den Marquis de Sade, Dolly ruft ihre Freundin „Sir“, wie Marcie es bei Peppermint Patty zu tun pflegt, und Adornos vielzitierter Ausspruch „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ wird im Angesicht zeitgenössischer Ereignisse zu „Du kannst doch nach Köln kein Gedicht mehr schreiben!“ In derselben Tradition zitiert auch das Bühnenbild (Sandra Linde) mit knallbunten Bausteinen die Optik des PC-Spiel-Klassikers Minecraft, ergänzt durch kreative Visuals (Jörg Schütze), die Werke der 70er und 80er Jahre aufgreifen. Die Wuppertaler Inszenierung orientiert sich in allen Bestandteilen eng an Leppers Vorlage, macht es dem Zuschauer damit allerdings nicht immer leicht.

Bedrohliche Aktualität

Neben der textlichen Dichte liegt die Stärke des Stücks vor allem in der thematischen Aktualität: Der anfängliche Gegenspieler der Protagonistin ist ein unreflektiertes extremistisches Kollektiv, das mit willkürlichen Schuldzuweisungen und gezielten Anschlägen Angst und Schrecken verbreitet, im Grunde allerdings aus verunsicherten und desorientierten Individuen besteht, die schließlich sogar aus Versehen ihr eigenes Schloss in die Luft jagen, weil sie es mit einem anderen verwechselt haben. Hier kommt der ironisch-moralische Zeigefinger ins Spiel: Was als „Abweichung“ auf der Abschussliste steht, sieht der „Norm“ offenbar zum Verwechseln ähnlich. Ebenso ergeht es den „Puppen“, die trotz ihrer eigentlichen Menschlichkeit als Differenz von der Masse zur Zielscheibe der Gesellschaft der Freunde des Verbrechens werden. Puppen fungieren hier als Symbol für jegliche Opfer gesellschaftlicher Ausgrenzung – was spätestens in der Parole „Puppen raus!“ deutlich wird. Auch die Namen der Protagonistinnen sprechen für eine stereotypische Figurenzeichnung ganz im Sinne der klassischen Rollenverteilung.

Sollten wir nicht versuchen, das Allgemeine in der Differenz zu versöhnen? Nein! Nein! Weg mit der Differenz! (Gesellschaft der Freunde des Verbrechens)

In den brutalen Szenen bleibt Peter Wallgrams Inszenierung vage, anstatt auf Biegen und Brechen provozieren zu wollen: Gruppenvergewaltigungen und Misshandlungen werden nicht explizit dargestellt, sondern verbleiben in skurril-humoristischer Andeutung, was den makaberen Charakter des Stücks unterstützt, ihm jedoch auch einen Teil seiner Bedrohlichkeit raubt. Gerade die drastischsten Geschehnisse sind so schnell vorüber, dass der Schockmoment ausbleibt und erst im Nachhinein durchsickert, was eigentlich passiert ist. Aber die Botschaft kommt an:  Anne Leppers Stück ist eine beängstigend treffende – wenn auch ins Groteske überzeichnete – Beobachtung unserer Zeit, in der Selbstverwirklichung keine Grenzen kennt und willkürlich gesetzte Maßstäbe über Integration oder Ausgrenzung entscheiden. Die darüber hinausgehende Handlung ist zwar auch ohne die Kenntnis der zahlreichen Anspielungen verständlich, die kunstvolle Vielschichtigkeit des Textes bleibt dem unwissenden Zuschauer jedoch verborgen – vielleicht ein Grund dafür, warum der Applaus am Premierenabend zwar wohlwollend, aber zurückhaltend ausfiel.

Tickets für die kommenden Vorstellungen sind wie immer bei der KulturKarte (0202 5637666) erhältlich. Nicht vergessen: Studierende der BUW erhalten nach Reservierung freien Eintritt!

 

„Mädchen in Not“
Termine im Theater am Engelsgarten:

Sa. 07. April 2018 19:30 Uhr
So. 08. April 2018 18:00 Uhr
Do. 12. April 2018 19:30 Uhr
Fr. 13. April 2018 19:30 Uhr
Sa. 28. April 2018 19:30 Uhr
So. 29. April 2018 16:00 Uhr
Sa. 19. Mai 2018 19:30 Uhr
So. 20. Mai 2018 16:00 Uhr
Fr. 25. Mai 2018 19:30 Uhr

Inszenierung: Peter Wallgram
Bühne & Kostüme: Sandra Linde
Visuals: Jörg Schütze
Dramaturgie: Barbara Noth
Regieassistenz: Kristin Trosits
Inspizienz: Charlotte Bischoff
Regiehospitanz: Sophie Habib

Besetzung:

Julia Reznik: Baby
Lena Vogt: Dolly
Konstantin Rickert: Puppe / Franz
Martin Petschan: Puppe / Jack
Miko Greza: Duran-Duran
Gesellschaft der Freunde des Verbrechens: Frauke Altenberg, Mirel Capsa, Nadine Funk, Vincent Krafft, Julia Regnath, Sebastian Schön, Lara Sondern, Hannah M. Usemann, Britta Wenzel