Realitätsverlust und Albtraumsehnsucht: Bohuslav Martinůs „Julietta“ treibt ihr Unwesen im Opernhaus

Michel (Sangmin Jeon) besingt seine lockenprächtige Julietta (Ralitsa Ralinova). Foto: Jens Grossmann

IMG_7799von Julia Wessel

Ein junger Anzugträger namens Michel kehrt nach Jahren in eine am Meer liegende Kleinstadt zurück, in der er damals die schönste aller Frauen gesehen hat. Doch nichts ist mehr wie bei seinem ersten Besuch: Die exzentrischen Bewohner, die ihn kurzerhand zum König der Stadt erklären – inklusive Kochtopfkrone und Haarfönzepter – haben ihr Gedächtnis verloren und betteln nun um Michels Erinnerungen, um sie als ihre eigenen anzunehmen. Als Michel seine Julietta endlich findet, scheinen sich Vergangenheit und Gegenwart, Fiktives und Reales nur noch weiter zu verstricken – wie in einem Traum, in dem die Gesetze der Realität nicht gelten. In einer farbenprächtigen Inszenierung zeigt die Oper Wuppertal Bohuslav Martinůs 1938 uraufgeführten Dreiakter „Julietta“, eine zweifelhafte Liebesgeschichte, deren Schauplatz nach einer skurrilen Traumlogik funktioniert.

Dass an diesem sonderbaren Ort etwas nicht stimmen kann, merkt nicht nur Michel sofort. Zu schräg die Figuren, zu bunt die Kostüme – angefangen bei einem dienstbeflissenen vermeintlichen Kommissar über einen jungen Mann mit Tropenhelm, der mit Leib und Seele sein imaginäres Dampfschiff verteidigt, bis hin zur lang ersehnten Julietta (Ralitsa Ralinova). Einer griechischen Göttin gleich erhebt die Titelgebende sich aus den Tiefen eines Brunnens, eine Amphore auf dem von einer wallenden Robe bedeckten Arm und auf dem Kopf eine Lockenpracht, die kaum durch die meterbreite Öffnung im Boden passt. Zu ihrem puppengleichen Augenaufschlag gesellt sich ein glockenheller Sopran, der sie umso unwirklicher erscheinen lässt.

Das Wuppertaler Sinfonieorchester spielt die surrealistische Komposition trotz teilweise geringer Melodik mit anhaltender Intensität. Die wiederkehrenden musikalischen Motive, allen voran die anfänglichen unheilvollen Flötenklänge, gehen mit jeder Wiederholung tiefer unter die Haut. Die anspruchsvollen disharmonischen Gesangsparts, die nicht vom Orchester begleitet werden, meistert das Opernensemble mit Bravour – wie auch die rein schauspielerisch dargestellten Szenen: Sangmin Jeon ist das hilflose Unverständnis Michels ohne Wenn und Aber abzukaufen und Ralitsa Ralinovas Interpretation der Julietta ist mal kokett, mal lieblich, mal aufbrausend, aber scheint nie von dieser Welt zu stammen. Doch auch die restlichen Darsteller, die teilweise mehrere Nebenrollen zugleich besetzen, überzeugen durch die grenzenlose Überzeichnung ihrer Figuren.

Alles Reale erscheint fiktiv, und alle Fiktionen nehmen die Gestalt von Realität an.

(Bohuslav Martinů im Vorwort zu „Julietta“)

Martinů, einer der bedeutendsten tschechischen Komponisten, verfasste das Libretto auf Grundlage des Dramas „Juliette ou la Clé des songes“ von Georges Neveux. Nach der Uraufführung 1938 in Prag kam das Stück jedoch nur noch selten zur Aufführung, was den absurden Geschehnissen auf der Bühne und dem erschwerten Zugang zur surrealistischen Musik verschuldet sein könnte. Auch in der Wuppertaler Inszenierung herrscht durch die langsame Entwicklung der ohnehin überschaubaren Handlung vor allem während des sehr langen ersten Teils eine gewisse Langatmigkeit. Die Dialoge der Figuren scheinen sich ewig im Kreis zu drehen und bis zum plötzlichen dramatischen Klimax im zweiten Akt ist kaum eine Fortentwicklung der ausweglosen Situation zu beobachten. Die skurrilen Kostüme (Petra Korink) und das reduzierte, mit einzelnen stimmigen Requisiten ausgestattete Bühnenbild (Jan Freese und Petra Korink) hingegen bieten zahlreiche entdeckungswürdige Details und unterstützen die unbehagliche Unwirklichkeit des gesamten Settings.

Die zweite Hälfte des Stücks, die den dritten Akt beinhaltet, kommt etwas rasanter daher. In einem Traumbüro erfüllt ein gelangweilter Beamter die kühnsten Wünsche verschiedenster Besucher. Erst jetzt offenbart sich die Metaebene des Werks, die seinen eigentlichen Reiz ausmacht: Alle Traumanwärter fliehen von der Realität in eine bewusst gewählte Welt, in der sie sein und besitzen können, was immer sie wollen. So wie Julietta für Michel zum Symbol einer unerfüllten Sehnsucht wird, wünscht sich etwa ein Häftling ein goldenes Klosett, auf dem er in aller Ruhe lesen kann und ein blinder Bettler wäre gern auf einer tropischen Insel. Entgegen der Warnungen des Beamten will Michel um jeden Preis Juliettas zärtlichen Rufen folgend in seine persönliche Traumwelt zurückkehren – auch wenn das bedeutet, sich für immer in ihr zu verlieren.

Erst kurz vor Schluss entfaltet sich die in den ersten beiden Akten entworfene (Alb-)Traumumgebung erneut, diesmal vor dem Hintergrund der Trennung von Fiktion und Realität, die der dritte Akt vornimmt. Mit einem verklärten Lächeln ins Leere greifend saugt das Ensemble sein Publikum während der letzten unheilvoll anschwellenden Töne praktisch mit auf die Bühne. Dieser stimmungsvolle Abschluss brachte den Darstellern trotz vieler freier Plätze im Auditorium anhaltenden Applaus und Standing Ovations ein. Noch zweimal wird „Julietta“ gespielt – ein Stück, dessen Handlung auf knapp drei Stunden gestreckt zwar an Dichte fehlt, dessen schaurige Atmosphäre und starke Figurenzeichnung jedoch einen bleibenden Eindruck hinterlassen.


„Julietta“

Lyrische Oper in drei Akten von Bohuslav Martinů

Weitere Termine:

Sa. 14. April 2018 19:30 Uhr
So. 17. Juni 2018 16:00 Uhr (zum letzten Mal!)

Musikalische Leitung: Johannes Pell
Inszenierung: Inga Levant
Bühne: Jan Freese / Petra Korink
Kostüme: Petra Korink
Choreografie: Rafal Dziemidok
Chor: Markus Baisch
Dramaturgie: Jana Beckmann

Besetzung:

Ralitsa Ralinova: Julietta, Alte Dame
Sangmin Jeon: Michel
Catriona Morison: Kleiner Araber, Alte Frau, Handleser, Junger Matrose, Hotelboy
Simon Stricker: Mann mit Helm, Altvater Jugend, Verkäufer von Erinnerungen, Waldhüter, Blinder Bettler, Lokomotivführer
Sebastian Campione: Mann am Fenster, Alter Mann, Alter Matrose, Sträfling
Christian Sturm: Kommissar, Beamter
Oliver Picker: Alter Araber
Marco Agostini: Vogelverkäuferin
Tomasz Kwiatkowski: Fischverkäuferin
Ralitsa Ralinova / Katrin Natalicio / Britta Huy: Drei Herren