Buchtipps: Großstadtromane

Großstadtromane

Berlin, Barcelona, Pjöngjang – nicht nur wunderschöne Landschaften können großartige Kulissen für literarische Werke bieten, sondern auch faszinierende Städte. Wir stellen euch fünf lesenswerte Großstadtromane und eine Großstadt-Graphic Novel vor.

Lara empfiehlt:
Guy Delisle – Pjöngjang [Graphic Novel]

In seiner Graphic Novel Pjöngjang berichtet der durch seine Reise-Comics bekannte Zeichner Guy Delisle von seinem mehrmonatigen Aufenthalt in der Hauptstadt Nordkoreas. Durch die graphische Aufbereitung seiner Erinnerungen umgeht er geschickt das dort für manche Bereiche geltende Photographie-Verbot. Delisle kann so dem Leser nicht nur die absurden Szenen, die sich beim Besuch der Touristen-Zwischenstopps ergeben haben, näher bringen. Besonders faszinierend sind die Erzählpassagen, die von den wenigen Ausflügen zeugen, die er unerlaubterweise ohne seinen ihm zugeteilten Touristenführer (und Aufpasser) unternommen hat. Während der gebürtige Kanadier von den kulturellen Unterschieden und Gepflogenheiten in Pjöngjang berichtet, wird der Tonfall der Graphic Novel immer wieder auf humorvolle Art kritisch. Pjöngjang bietet dem Leser bizarr-tragische Einblicke in das durch und durch fremdbestimmte Leben in Nordkoreas Hauptstadt, ohne dass abschätzig auf die Menschen dort hinab geblickt würde. Grade der respektvolle Schreibstil, gepaart mit den minimalistischen Zeichnungen, macht diesen ungewöhnlichen Reisebericht zu etwas Besonderem.

Nadine empfiehlt:
Carlos Ruiz Zafón – Der Schatten des Windes

Der zehnjährige Daniel Sempere wird von seinem Vater zu einem geheimen Ort mitgenommen, dem Friedhof der vergessenen Bücher. Dort darf er sich ein Buch aussuchen, das er mit nach Hause nehmen und auf welches er aufpassen soll. Daniel entscheidet sich für „Der Schatten des Windes“. Er verschlingt dieses Buch und versucht, mehr über den Autor Julián Carax zu erfahren, was sich allerdings als äußerst schwierig herausstellt. Über Jahre hinweg stellt er gefährliche Nachforschungen an, denn Carax und sein Buch scheinen großes Unglück mit sich zu bringen.

Detail- und metaphernreich erzählt Zafón eine wundervolle Geschichte, die seine Leser von der ersten bis zur letzten Seite fesselt. Er lässt Barcelona durch seine unglaublich dicht kreierte Atmosphäre zum Leben erwecken. Der Schatten des Windes ist eine grandiose Hommage an die wunderschöne Stadt Barcelona, aber auch an das Lesen und die Bücher. Eine Vielzahl skurriler Charaktere sowie unerwarteter Wendungen machen den spanischen Großstadtroman zu einem absoluten Pageturner. Eine packende Geschichte über Liebe, Verrat, Geheimnisse und Erinnerungen, die in einer atemberaubend inszenierten Kulisse spielt.

Julia empfiehlt:
Alfred Döblin – Berlin Alexanderplatz

Franz Biberkopf wird nach vier Jahren Haft wegen Totschlags aus der Strafanstalt Berlin Tegel entlassen – im Gepäck die Absicht, von nun an ein anständiges Leben zu führen. Die Rückkehr in den Alltag der zunehmend technisierten Metropole überfordert ihn jedoch maßlos, in seiner verzerrten Wahrnehmung scheint die Stadt geradezu auf ihn einzustürzen. In expressionistischer Montage berichtet der Erzähler vom Getümmel in der Großstadt, von Biberkopfs bizarren Begegnungen mit zwielichtigen Gestalten und seinen Versuchen, mit verschiedenen Verkaufsjobs Fuß zu fassen – vergeblich. Durch eingeschobene Liedverse, Bibelzitate und Gewaltdarstellungen wird Biberkopfs Absturz in den Wahnsinn sprachlich eindrücklich verarbeitet.

Der 1929 erstmalig bei Fischer veröffentlichte Roman gilt nicht nur als erfolgreichstes Werk Alfred Döblins, sondern etablierte darüber hinaus das Genre des Großstadtromans im deutschsprachigen Raum. Das Phänomen Großstadt war zu Döblins Zeit ohnehin brandaktuell, nicht zuletzt durch die Uraufführung des experimentellen Dokumentarfilms „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ von Walther Ruttmann 1927 und den Erfolg von James Joyces Roman Ulysses, der im selben Jahr erstmalig in deutscher Übersetzung erschien. Auch wenn der Handlung von Berlin Alexanderplatz teilweise schwer zu folgen ist, spiegeln gerade die collageartige Zusammensetzung der Geschehnisse und die vielschichtige Sprache die Überforderung des Protagonisten in der sich rasant entwickelnden Großstadt wieder. Hierdurch wird einerseits ein Eindruck des damaligen Unbehagens gegenüber dem technischen Fortschritt abgebildet, andererseits jedoch sind die bedrohlichen Bilder auch in Bezug auf heutige Metropolen noch erschreckend nachvollziehbar. Ein wahrer Klassiker der Großstadtliteratur!

Marcel empfiehlt:
Heinrich Steinfest – Cheng. Sein erster Fall

Markus Cheng, dessen Name und Aussehen an einen Chinesen erinnern, ist ein Privatdetektiv in der Weltmetropole Wien. Besonders erfolgreich ist er nicht. Zu allem Übel wird auch noch sein einziger Klient tot aufgefunden – in dem Einschussloch in seinem Kopf steckt ein Papierröllchen mit der Nachricht „Forget St. Kilda“. Von nun an nimmt das Unheil seinen Lauf, da Cheng von einem Unglück ins andere stolpert. Dies gilt ebenso für die Handlung, die in diesem „Großstadtkrimi“ nur langsam in Fahrt kommt. Heinrich Steinfest hat vielmehr ein Auge für den Detailreichtum der erzählten Welt, schmückt jede noch so unbedeutende Beobachtung, wie unter einem Mikroskop vergrößert, mit Metaphern und Vergleichen aus. Die Protagonisten – wie Cheng,  der später zum einarmigen Chinesen avanciert – sind so absurd und bitterböse gezeichnet, wie man es von der Steinfest’schen Erzählweise gewohnt ist. Somit ist Cheng ein intelligenter, wortwörtlicher Comic im Gewand eines Großstadtkrimis, dessen Bilder rhetorisch kunstvoll in Sprache verpackt wurden. Dies macht Cheng besonders lesenswert!

Lara empfiehlt:
Håkan Nesser – Elf Tage in Berlin

Arne Murberg kann seit einem Unfall im Kindesalter nicht mehr ganz so schnell denken wie die Anderen. Mittlerweile ist er erwachsen geworden und sehr glücklich damit, seinen Verwandten beim Tagesgeschäft in einem Kiosk behilflich sein zu können. Kurz bevor sein Vater stirbt, beauftragt dieser ihn damit, seine totgeglaubte Mutter ausfindig zu machen und ihr ein Kästchen zu übergeben. Da ihr letzter bekannter Aufenthaltsort Berlin ist, soll Arne nun im Eiltempo ein paar Brocken Deutsch lernen und in die große, gefährliche Stadt reisen, um seine Aufgabe zu erfüllen.

Der durch seine Kriminalromane bekannte Autor Håkan Nesser hat mit Elf Tage in Berlin ein Buch geschaffen, das von abenteuerlichen Zufällen, Verstrickung von Schicksalen und dem bewährten Kampf vom Guten gegen das Böse erzählt. Als Schauplatz hat er das namensgebende moderne Berlin gewählt, durch dessen Großstadtdschungel sich der Protagonist teilweise so hilflos hindurchkämpft, dass man in das Buch steigen, ihn an der Hand nehmen und bei der Erfüllung des letzten Willens seines Vaters behilflich sein möchte.

Nadine empfiehlt:
Haruki Murakami – Tanz mit dem Schafsmann

Der Protagonist des Buches, ein namenloser, geschiedener Mittdreißiger, lebt eigentlich nur so vor sich hin, bis eines Nacht seine ehemalige Geliebte Kiki im Traum nach ihm ruft. Er kann das Mädchen mit den wunderschönen Ohren einfach nicht vergessen und macht sich auf an den Ort, an dem sie einst glücklich miteinander waren: das Hotel Delfin in der japanischen Großstadt Sapporo. Doch dort steht mittlerweile ein riesiger gläserner Wolkenkratzer, das Dolphin Hotel. Ein Bewohner ist allerdings geblieben – der mysteriöse Schafsmann. Mit der Hilfe des Schafsmannes, versucht er, Kiki zu finden, einen Mordfall aufzuklären – und vielleicht doch irgendwann mal die Welt und sein Leben zu verstehen, die beide ganz schön aus den Fugen geraten sind.

Haruki Murakami, der momentan vor allem wegen seines neuen Zweiteilers Die Ermordung des Commendatore in aller Munde ist, hat mit seinem älteren, weniger bekannten Werk eine Genremischung aus Großstadtroman, Krimi und magischem Realismus geschaffen. Was mit der Suche nach einem Mädchen beginnt, entwickelt sich bald zur Suche nach der eigenen Identität und dem eigenen Platz in dieser Welt. Mitreißend, spannend und übernatürlich entführt uns Murakamis Tanz mit dem Schafsmann nach Sapporo. Mit ausgefallenen Charakteren und den beiden kontrastreichen Hotels porträtiert Murakami ein Land und seine Einwohner, gefangen zwischen Kapitalismus und Einsamkeit. Traumgleiche Sequenzen, die jegliche Eingrenzung der Realität in Frage stellen, ziehen die Leser in den Bann und werfen, wie man es von dem Autor gewohnt ist, mehr Fragen auf, als sie letzten Endes beantworten. So fühlt man sich am Ende der Lektüre, als wäre man gerade aus einem sehr beeindruckenden Traum erwacht.