Daniel Kehlmann – Tyll

Daniel Kehlmanns neuer Roman Tyll erzählt die Geschichte des berühmten Narren neu: Tyll Ulenspiegel zieht zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges als Schausteller durch die deutschen Lande. Außerhalb der Gesellschaft stehend hält er den Menschen den Spiegel vor, fördert ihre mühsam verborgenen Schwächen zu Tage und führt sie an der Nase herum.  Die historischen Ereignisse gehen dabei Hand in Hand mit der Erzählung, die von einem sprachlichen Jongleur berichtet und die Macht der Sprache in ihren Fokus nimmt.

IMG_7727von Lara Ehlis

Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen.

Dieser erste Satz macht dem Leser bereits klar: Die Katastrophe des Krieges ist unausweichlich. Er wird kommen und mit ihm die Gräueltaten, auf die die Dorfbewohner weiter Landstriche im Moment noch warten. In Bälde aber werden sie diese erfahren, ebenso wie all die Entbehrungen, die sie durch schlechtes Wetter und Missernten erleiden. Tyll ist der narrenhafte personalisierte rote Faden einer Erzählung, die auf vielschichtige Weise gesellschaftliche Zustände, Schicksale und die Naturgewalt eines Krieges umspannt. In einzelnen, zeitlich ungeordneten Episoden wird aus verschiedenen Perspektiven verdeutlicht, was es heißt, mitten in einem Krieg zu leben.

Aufgewachsen in einem kleinen, abgeschiedenen Dorf als Sohn eines Müllers, der sich dummerweise mehr für Astronomie und Magie als für die Ernährung seiner Familie interessiert, lernt der junge Tyll schnell, was es heißt, anders zu sein. Und, dass das Anderssein gefährlich ist. Deshalb nimmt er Reißaus, schließt sich einem Schausteller an und erlernt dessen Handwerk.

Wir kannten sein geschecktes Wams, wir kannten die zerbeulte Kapuze und den Mantel aus Kalbsfell, wir kannten sein hageres Gesicht, die kleinen Augen, die hohlen Wangen und die Hasenzähne. Seine Hose war aus gutem Stoff, die Schuhe aus feinem Leder, seine Hände aber waren Diebes- oder Schreiberhände, die nie gearbeitet hatten.

Der Roman bedient sich eines Außenblickes auf Tyll, um so seine Geschichte zu erzählen. Er ist ihr Dreh- und Angelpunkt, die anderen Figuren befinden sich auf der Suche nach ihm und nehmen allerlei Strapazen in Kauf, um den berühmten Narren aufzuspüren. Auf diese Weise entstehen unterschiedliche Erzählstränge, die sich um Tyll herum entspinnen und immer wieder bei ihm zusammenlaufen. Inmitten der Tristesse des Krieges ist die Beschreibung der Figur Tyll ein ums andere Mal herausstechend. In den zahlreichen Reiseepisoden bekommt der Leser Einblick in das traurige, graue Panorama der vom Krieg zerstörten Landstriche. Kehlmann berichtet von der Härte der Menschen, die – ihre letzten Habseligkeiten schulternd – vor den bewaffneten französischen und schwedischen Truppen fliehen. Hierbei zeigt der Autor immer wieder den kühlen und notwendigen Pragmatismus der vom Elend Gebeutelten auf.

Am Hof des Winterkönigs Friedrich V. und seiner Frau Elisabeth Stuart angekommen, wird Tyll zur Stimme schonungsloser und hässlicher Wahrheiten. Er darf aussprechen, was Andere sonst nur denken, denn als Hofnarr ist er der Einzige, der keine Strafe fürchten muss. Dabei führt er, in bester Narrenmanier, die Menschen vor und macht sie wütend, indem er ihre Schwachpunkte geschickt herausstellt. Am liebsten macht er sich über diejenigen lustig, die sich für besonders klug halten.

Im Zentrum des Romans steht die Sprache an sich. Tyll erringt mit ihrem kunstvollen Gebrauch in jeder Situation die Oberhand und sichert sich mit ihrer Hilfe das Überleben. Auch die anderen Romanfiguren setzen Sprache geschickt ein, um ihre politischen Ziele zu erreichen oder verhandeln das Thema der deutschen Sprache als Literatursprache:

Unsere Sprache wird gerade erst geboren. Hier sitzen wir, drei Männer aus dem gleichen Land, und sprechen Latein. Warum? Jetzt mag das Deutsche noch ungelenk sein, ein kochendes Gebräu, ein Geschöpf im Werden, aber eines Tages ist es erwachsen.

Diese Worte spricht der Dichter Fleming im Disput mit dem Gelehrten Athanasius Kirchner, der Sprache wiederum nicht nur als Mittel zur Verständigung, sondern auch als Auszeichnung einer Standes- und Bildungszugehörigkeit versteht:

Aber das Deutsche hat keine Zukunft. Erstens, weil es eine hässliche Sprache ist, dickflüssig und unsauber, ein Idiom für ungelehrte Leute, die nicht baden. Zweitens, es gibt für so ein langwieriges Wachsen und Werden gar keine Zeit mehr.

Kehlmanns Sprache lässt bei alldem eindrucksvoll und anschaulich Landschaften entstehen, die die Vorstellungskraft des Lesers bedienen. Er versetzt sich in die Gedankenwelt der dargestellten Figuren hinein und erwähnt so beiläufig magische Quadrate, Drakontologie und Alchemie. Stellenweise fühlt sich die erzählte Welt so fern und anders an, dass man völlig vergisst, dass die Handlung sich durchaus so vor rund 370 Jahren im eigenen Land zugetragen haben könnte und hat.

Obwohl Tyll von der Geschichte des berühmten Narren handelt, darf man von Daniel Kehlmanns neuem Roman keinen durchgängig witzigen Tonfall erwarten. Vielmehr handelt es sich um ein erschreckend offenes, lehrreiches Stück Literatur, das historische Sachverhalte für den heutigen Leser in ein neues Licht rückt. Durch Verflechtungen der Erzählstränge, Sprünge in der erzählten Zeit und zwischen den Figuren entstehen Überblendungen, die das Lesen abwechslungsreich und unterhaltsam gestalten. Tyll Uelenspiegel fungiert inmitten der dargestellten Machtspiele und Schicksale als Bindeglied, welches im Gesamtkontext darstellt, dass Krieg und Debatten immer gleich funktionieren. Unabhängig davon, in welchem Zeitalter sie stattfinden.

Der Rowohlt-Verlag hat Auf der Höhe freundlicherweise ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.