von Julia Wessel
Die studentische WG-Küche ist das moderne Forum. Hier werden die großen Fragen um Politik, Wirtschaft und Umwelt behandelt, bei einem selbstgekochten Essen und einem Glas Wein. Doch was passiert, wenn jemand die eigene Meinung nicht teilt? Muss er die Tischrunde verlassen? Oder gleich diese Welt? Das Bergische Uni-Theater (BUnT) hat sich in vier gut besuchten Vorstellungen seiner jüngsten Produktion „In Vino Veritas“ die brisante Frage gestellt, wie weit Überzeugung gehen darf.
Fünf grundverschiedene und mehr als typische Masterstudenten – der rechtschaffende Sozialpädagoge Paul, der friedfertige Künstler Aurel, die modebewusste Psychologin Jule, die verwöhnte Juristin Sophie und die direkte Politologin Melinda – teilen sich nicht nur eine Wohnung, sondern auch eine links-liberale Weltanschauung, auf deren Basis regelmäßig beim selbstgekochten Bio-Abendessen in der WG-Küche diskutiert wird. Als der Holocaustleugner und ehemalige Afghanistan-Soldat Freddy den Weg an ihre Tafelrunde findet und Aurel nach einer hitzigen Debatte mit einem Messer bedroht, sticht dieser ihn in einer Kurzschlussreaktion nieder. Mehr oder weniger einstimmig beschließen die Studenten, den Vorfall zu begraben – im Garten hinterm Haus. Doch ein Vorwurf Freddys geht ihnen nicht aus dem Kopf: Werden sie wirklich niemals etwas verändern, weil sie immer nur diskutieren und demonstrieren, aber nie aktiv ins Geschehen eingreifen? Stehen sie nicht genug für ihre Überzeugungen ein, wenn sie deren Gegnern nicht das Handwerk legen?
„Stellt euch vor, ihr könnt ins Jahr 1909 reisen. Nach Österreich. Und geht dort zusammen mit einem jungen Künstler namens Adolf Hitler trinken. Bringt ihr ihn um? Tötet ihr ihn an Ort und Stelle, auch wenn er bis dahin noch nichts getan hat?“
Eingebettet in eine nicht zuletzt durch das Spiel Niklas Selz‘ überzeugende Rahmenhandlung führt „In Vino Veritas“ diese Überlegung um Prinzipien und Selbstjustiz ad absurdum: Als weitere Gäste– von der homophoben Pfarrerin bis zum Klimawandelskeptiker – mit ihrem radikalem Gedankengut die detailreich hergerichtete WG-Küche beehren, werden diese kurzerhand in alter „Arsen und Spitzenhäubchen“-Theatertradition zur Strecke gebracht. Gelungen ist dabei die ungewöhnliche Reihenfolge der Geschehnisse: Anstatt die Diskussionen über das gesamte Stück bis zur Eskalation zu steigern, beginnt die Mordfolge halbwegs unfreiwillig und lässt die jungen Rächer gleich zu Beginn für weitere Taten abstumpfen. Diese verlaufen dann leider etwas zu eilig: Das immer frühere Greifen nach der unheilvollen blauen Karaffe wird zwar komödiantisch eingesetzt, erfährt jedoch im temporeichen Wechsel der dafür eigentlich zu interessanten Gäste wenig Steigerung. Über ein geschicktes Detail im liebevoll gestalteten Bühnenbild lässt sich die Mehrung der im Garten versteckten Gräber durch die Fenster der Küche mitverfolgen, die inzwischen als Tomatenbeete getarnt werden.
Neben der Rahmung der Kriminalgeschichte durch den Fernsehmoderator Ludwig von Kaltenstein wirkt der zusätzliche Handlungsstrang um die Suche nach einem verschwundenen Mädchen, als dessen Mörder sich der anfangs ermordete Freddy herausstellt, beinahe überflüssig. Die Besuche der sympathischen Kommissarin sorgen bei den Nachwuchskriminellen zwar für Panik, liefern jedoch einen Teil der Geschichte, der letzten Endes nicht ausreichend aufgegriffen wird, um Einfluss auf die Kernhandlung zu nehmen. Spannender ist da die Entwicklung der zunächst klischeehaft angelegten Charaktere, deren Eigenschaften etwas zu gut zu ihren Studiengängen passen, die im Laufe des Stücks jedoch zusehends an Kontur gewinnen. In kurzen Zwischensequenzen zeigen einzelne Figuren in der Verarbeitung der geernteten Tomaten ihren Umgang mit der Ausnahmesituation: Während das Ganze für Sophie nur ein Spiel ist, betrachtet Aurel die gemeinsame Arbeit von einer künstlerisch-schöpferischen Seite. Paul, anfangs die Stimme der Vernunft in der Gruppe, lässt sich schließlich mitreißen – wenn auch nur Aurel zuliebe. Melinda schließlich – verkörpert von einer großartigen Michelle Middelhoff, neben der ihre Mitbewohner bisweilen etwas blass wirken – offenbart in einer beeindruckenden Gesangseinlage erstmalig eine kleine Spur charmanten Wahnsinns. Diese Szenen zeichnen nicht nur die Figuren stärker heraus, sondern halten darüber hinaus das Stück trotz räumlich begrenztem Kammerspiel-Charakter in Bewegung, während am benachbarten Esstisch umgebaut wird.
„Ich denke, wir können jetzt alle ein Schlückchen vertragen…“
Trotz kleinerer Schwächen im Plot überzeugt die kurzweilige Inszenierung jedoch durch die für ein Uni-Theater beeindruckende Professionalität, angefangen bei der aufwendigen Ausstattung und der wunderbar passenden Talkshow-Musik bis hin zu der gelungenen Überzeichnung der Diskussionspartner, deren stereotype Aussagen immer wieder für Lacher im Publikum sorgen. Das stimmige, aber leider recht vorhersehbare Ende wird durch ein packendes Schlussplädoyer von Niklas Selz entschädigt. Die eigentliche Stärke des Stücks jedoch liegt in dem Nachgeschmack, den die hochaktuelle Thematik mit sich bringt: Die Produktion führt dem überwiegend selbst studentischen Publikum die eigene Überheblichkeit aufgrund der vermeintlich richtigen Einstellung vor Augen und hat im Anschluss an die Vorstellungen sicher noch für die eine oder andere Diskussion gesorgt. Angesichts der gegenwärtigen Vielzahl radikaler Positionen scheint die Überlegung, wer überhaupt bestimmt, welche Meinung die richtige ist und um welchen Preis diese vertreten werden darf, wichtiger denn je. „In Vino Veritas“ liefert auf diese Fragen zwar keine Antworten, nähert sich den bedrohlichen Entwicklungen der Jetztzeit jedoch auf die einzig sinnvolle Weise: mit einer großen Portion Galgenhumor.
BUnT-Ensemble:
Aurel: Raphael Hausmann
Jule: Yvonne Schnickmann
Melinda: Michelle Middelhoff
Paul: Marc Busch
Sophie: Rebekka Herrig
Ludwig von Kaltenstein: Niklas Selz
Kommissarin Eva Leiter: Anouk Uyandiran
Freddy: Sebastias Berg
Judith Fronbeck: Verena van der Linde
Sexist: Robin Smets
Rassistin: Rebecca Hoven
Klimawandelskeptiker: Arne Fahrenkrog
Luise: Leandra Tripp
Maria: Lena Lankes
Regie: Frida Stein
Bühnenbild: Frank Zobel, Anouk Uyandiran, Rebekka Herrig
Musik: Jens Reddmann
Kostüm & Maske: Michelle Middelhoff
Technik: Benjamin Blum
Öffentlichkeitsarbeit: Niklas Selz
Plakatdesign: Aileen Liu
Unterstützung: Stefan Neumann