Sasha Marianna Salzmann – Außer Sich

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von Kerstin Kiaups

Alis Zwillingsbruder Anton ist verschwunden und das einzige Lebenszeichen ist eine leere Postkarte aus Istanbul. Daraufhin begibt sich Ali auf die Suche nach ihrem Bruder und taucht ein in die orientalische Metropole und ihre schillernde Halbwelt. In Salzmanns Debütroman Außer Sich, der im September diesen Jahres bei Suhrkamp erschienen ist und es zurecht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, geht es um Familie, Identität und immer wieder um die Frage, wie die Vergangenheit das eigene Schicksal formt und ob es nicht doch noch einen letzten Rest Selbstbestimmung geben kann.

„Immer wenn ich merke, dass es für Menschen eine Vorstellung von Welt gibt, auf die sie ohne Zweifel bauen, fühle ich mich allein. Ausgeliefert. Sie sprechen davon, Dinge mit Sicherheit zu wissen, sie erzählen, wie etwas gewesen ist oder sogar wie etwas sein wird, und ich merke dann immer, wie sehr ich nichts weiß von dem, was als Nächstes passieren könnte. Ich weiß ja noch nicht mal, als was ich angesprochen werde, wenn ich Zigaretten kaufen gehe – als ein Er oder als eine Sie?“

Mit unterschiedlichen, miteinander verwobenen Erzählstimmen wird dem Leser die Geschichte der Familie von Ali und Anton anvertraut. Man findet heraus, wie sich die Eltern, Großeltern, Urgroßeltern kennen und lieben (und hassen) gelernt haben. Mit Alis Wunsch, mehr über den eigenen familiären Hintergrund zu lernen, erfährt auch der Leser immer mehr über die im Sozialismus lebenden Generationen der Familie, die ihr Erbe auch nach Flucht und Auswanderung nie ganz ablegen konnten.

Neben den mitreißenden, mitunter tragischen Geschichten aus Alis Familie und ihrer Kindheit erzählt Salzmann ebenfalls von Alis Zeit in Istanbul. Auf der Suche nach einem Bruder, der scheinbar nicht gefunden werden will und dessen Gesicht Ali dennoch in jedem Spiegel findet, begegnen ihr neue Freunde und Liebschaften, deren Verbindungen zu Ali tiefer gehen, als sie den Anschein machen.

„Ali schaute in Antons Gesicht neben sich und lächelte, und Anton lächelte in exakter Spiegelung zurück, sie bewegte ihren kleinen Finger auf dem Sofapolster auf ihn zu in der Hoffnung, seinen Finger zu finden, schaute aber nicht weg, hielt ihn mit ihrem Blick an der Decke fest. Dann zuckte etwas in Antons Gesicht, ein Kristall löste sich aus der Fassung des Lüsters, der sein und ihr Gesicht im Spiegel verzerrte, und fiel runter, direkt in das Wodkaglas in Alis Hand. Sie fuhr hoch, starrte auf den grünen Stein in der klaren Flüssigkeit, schwenkte das Glas, nahm einen Schluck und legte den Kopf wieder zurück. Kein Anton im Spiegel, kein kleiner Finger neben ihr auf dem Polster, sie beobachtete den Raum durch die Spiegelung an der Decke, ohne zu blinzeln.“

 

Je aussichtsloser sich währenddessen die Suche nach Anton gestaltet, umso mehr wird der Leser Zeuge, wie sich Ali selbst neu erfindet und nach und nach versucht, das zu tun, was in ihrer Familie sonst niemand geschafft hat: die Vergangenheit und alte Muster abzustreifen.

Salzmann verbindet auf beeindruckende Weise die Geschichte einer vom Wunsch nach Wohlstand und Sicherheit getriebenen Familie und ihrer Kinder mit der Frage nach der Bedeutung und Eindeutigkeit von Geschlecht und Identität. Nicht zuletzt ihre Arbeit als Theaterautorin und Dramaturgin wird es zu verdanken sein, dass Dialoge und Stimmungen den Leser nahezu in den Text hinein ziehen. Die Figuren, besonders Ali, Etja und Cemal, bleiben unweigerlich im Gedächtnis haften und führen dort auch noch nach Beendigung der Lektüre ein Eigenleben. Mit einem Gespür für Stimmungen und einem cinematographischen Blick fesselt der Roman von der ersten Seite an und schafft es auch, dies (fast) bis zum Ende durchzuhalten.