von Marcel Böhne
Platon sagte einst in seinem „Theaitetos“ 155d: „Das Staunen ist ein Zustand, der vor allem dem Freund der Weisheit zukommt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“
In diesen Zustand des Staunens versetzte mich Carl Einsteins „Bebuquin“. Es gleicht dem Staunen, das entsteht, wenn man ein prachtvolles, künstlerisch gemaltes Bild betrachtet. Dieses Bild besteht aus kleinen Szenen, die, für sich genommen, einen Inhalt darstellen, aber im Ganzen kein kohärentes Handlungsgefüge ergeben. Jede Szene ist ein künstlerischer Akt mit einer enormen Aussagekraft. Versucht man die Szenen zusammenzusetzen, so verschwimmt das Bild als Ganzes und wirkt willkürlich und unverständlich. Es ist die Ästhetik der bunten Farben des Bildes, die einen staunen lassen, indem sie ein fulminantes Farbkunstwerk ergeben.
Statt den Farben benutzt Carl Einstein die Sprache und reizt diese in ihrer künstlerischen Vielfalt aus. Einsteins sprachliches Kunstwerk „Bebuquin“ ist ein zentrales Werk des Expressionismus, welches sich über die konventionellen Regeln des Erzählens eines Romans hinwegsetzt und eine eigene Erzählweise kreiert.
Das Werk „Bebuquin“ ist fragmentarisch und ohne kohärenten Handlungsinhalt aufgebaut. Es gibt keine zusammenhängende Handlung, sondern es entstehen beim Lesen der einzelnen Szenen Bilder, die durch ihre surreale, groteske und phantastische Art hervorstechen. Ausgelöst werden diese absurden Bilder im Kopf des Lesers durch den symbolhaften Sprachstil, der ein wesentliches Merkmal des Expressionismus darstellt. Das Potpourri aus inkohärenten bildhaften Sprachelementen und Symbolen zieht sich durch den gesamten Text, welcher mithin eine inhaltliche Sinnlosigkeit und Verständnislosigkeit auslöst. Diese Sinnlosigkeit der Handlung ist zugleich ein zentrales Thema des „Bebuqin“.
Nebst der aufkommenden Industrialisierung und der raschen Urbanisierung im 19. Jahrhundert, entwickelte sich das Denken der Menschen ebenso weiter. Von den einst singulären Erscheinungen in einer einheitlichen Welt und dem Glauben an Gott, entwickelte sich das Denken mittels der kulturellen Entwicklung zu einer Wahrnehmung der Welt, die geprägt war von der Vielfalt abstrakter Formen. Die Welt erschien rascher und mannigfaltiger und der Mensch entwurzelte sich und sein Denken.
Aus dieser Entwicklung heraus kristallisierte sich die Orientierung des Nihilismus. Nietzsche, von dem Carl Einstein für seinen Text inspiriert wurde, charakterisierte den modernen Nihilismus als eine Entwertung der obersten Werte sowie die Überzeugung von der Sinnlosigkeit des Seins und dem Vorrang des Nichts über das Sein. Auch die christliche Religion hält er teilweise für nihilistisch, da sie das Sein des Werdens leugnet.
Den Nihilismusgedanken greift Carl Einstein auf und macht ihn zu einem zentralen Thema, welches die Hauptfigur Bebuquin verkörpert und woran sie zugleich verzweifelt. „Aber das Nichts ist die indifferente Voraussetzung allen Seins. Das Nichts ist die Grundlage […].“1
Für Bebuquin ist das Nichts das Fundament des Seins und Prinzip des Lebens, welches als nicht greifbar und fassbar erscheint. „Das Nichts soll sich materialisieren“,2 damit es als sinnliche Form erscheint und zu einem Konkretum wird, anstatt den transzendentalen Gegensatz zu dem Etwas zu bilden.
Die nihilistische Orientierung speist sich vor allem aus dem Nichtglauben an Gott und der Orientierungslosigkeit des denkenden Ichs. Bebuquin, von dieser „transzendentalen Obdachlosigkeit“3 betroffen, unterstreicht seine gedankliche Entwurzelung: „[…] aber führwahr, das Wesen ist ein Nichts.“4
Des Weiteren manifestiert sich die „transzendentale Obdachlosigkeit“ in der Figur des Bebuquin dadurch, dass er die Sinnhaftigkeit des Seins in Gott nicht erkennen kann. Bebuquins Prinzip des Seins liegt in der Erkenntnis der Welt also solche.
„Ich bin geschaffen zu erkennen und zu schauen, aber Deine Welt ist hierzu nicht gemacht; sie entzieht sich uns; wir sind weltverlassen. Suchen wir Dich, o Gott, dann sterben wir in der lautlosen Erstarrung, und es ist keine Erkenntnis, sondern Du bist das Ende.“
Bebuquin möchte die Welt transzendental erkennen und sich nicht mit der Dogmatisierung des Seins und der Welt durch Gott zufriedengeben. Aber er erkennt, dass nicht er dazu unfähig ist, sondern die Welt selbst.
Die Suche nach dem Wunder soll für Bebuquin der Ausweg aus der transzendentalen Krise sein. Das Wunder scheint die Lösung für die Überwindung des Nihilismus zu sein, welches der Mensch selbst aus sich heraus vollbringen muss. Dabei ist eine neue Art Mensch gemeint, der sich in Analogie zu Nietzsches Über-Mensch befindet und den Nihilismus überwinden soll:
„Wenn man jedoch wie ich zu der Überzeugung gelangt, daß wir weiter müssen, ist es denn nicht möglich, daß eine neue Art Mensch entsteht, die es verschmäht, in den gleichen Straßen weiter zu gehen?“6
Für Bebuquin bleibt das Finden des Wunders unerreichbar. Er ist selbst nicht fähig dazu, die neue Art Mensch zu sein. Als einzige Konsequenz, um sich der Sinnlosigkeit des Lebens zu entziehen, bleibt nur der eigene Tod.
Carl Einstein gelingt es, sinnvoll über die Sinnlosigkeit der Welt zu schreiben, in einem Stil, der sinnlos erscheint, sich aber als ein inhaltlich sinnvoller Themenkomplex entpuppt. Es wäre allerdings zu wenig, wenn ich mich darauf beschränken würde, den Nihilismus als alleiniges Hauptthema zu benennen. Carl Einsteins „Bebuquin“ thematisiert eine Mannigfaltigkeit an philosophischen Gedanken und Diskursen: Leiden, Schmerz, Logik, Denken, Sprache, Verhältnis von Begriff und Ding, Kant, Platons Ideenlehre, Determination der Welt, Vernunft, Gott, Aufhebung von Subjekt und Objekt, Einheit der Welt und Tod sind nur einige Themen, die in seinem Werk ineinander verschmelzen.
1Einstein, Carl: Bebuquin. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Stuttgart 1995. S. 19.
2A.a.O., S. 17.
3 Vgl. Lukács, Georg: „Die Theorie des Romans: Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik.“ Aisthesis Verlag. 2009.
4Einstein, Carl: Bebuquin. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Stuttgart 1995. S. 14.
5A.a.O., S. 44.
6A.a.O., S. 40.